Hallo Spiegelfrau

Texte aus einer schweren Zeit 3/4

„Mama. Guck mal. Ich seh so anders aus. Ich sehe so traurig aus. So traurig habe ich noch nie ausgesehen.“

Ich stand vor dem Badezimmerspiegel. Ein paar Stunden zuvor war ich ohne Vorwarnung von der glücklichen Freundin zur abgelehnten und fortgeschickten Ex-Freundin geworden. Seitdem zerbrach ich langsam.

Mama schaute mit mir zusammen mein Spiegelbild an und sagte: „Ja, jeder Schmerz hat sein eigenes Gesicht.“

„Trauer. Es ist reine, destillierte Trauer. Da ist nichts anderes mehr.“

Ich weinte.

Die Tage und die Wochen vergingen, jetzt sind es Monate, und der Tod und die Krankheit gesellten sich dazu in mein zerschlagenes Herz. Die Blicke in den Spiegel – auf der Suche nach mir. Nicht danach, ob ich okay aussehe, ob die Haare sitzen und ich so rausgehen kann. Die Suche nach dem, wie es dieser Frau im Spiegel geht, was sie ausstrahlt, was ihr Gesicht zeichnet. Blicke in die Nacht.

Heute schaue ich wieder in den Spiegel, schaue auf meine Tränen. Der Schmerz dieser ganzen letzten Zeit hat tiefe Furchen eingegraben und harte Kanten gezeichnet. Die Augen trüb, doch die Tränen machen sie wieder klar, und ich denke:

Hallo Spiegelfrau. Hallo.

Da bist du ja. Und da ist ja auch das alles – die Trauer, die Verzweiflung, die Überforderung, die Wut, die Anstrengung, die Mutlosigkeit, der Frust. Und die Entschlossenheit ist auch da und das kleine bisschen Hoffnung. Spiegelfrau, du hast ein Gesicht aus Scherben. Du bist erschöpft und morgen wirst du wieder aufstehen, auch wenn du dir das jetzt noch nicht vorstellen kannst. Heute gab es einen Weg für dich. Morgen wird es wieder einen geben. Wenn du das heute noch nicht glauben kannst, dann ist das okay. Es ist okay.

Verschüchterte Augen blicken zurück. Augen, die wissen: Auch wenn ich fliehen will, werde ich bleiben. Auch wenn es hart ist, werde ich weitergehen. Auch wenn es weh tut – weil das Leben eine Einbahnstraße ist und es nur vorwärts geht. Weil ich nicht aufgebe.

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