wachgeküsst

Was war der Auslöser? Wir wissen es nicht so genau. Ich denke, es war die Physiotherapie. Meinen Sohn in einer bestimmten Position halten, auf eine bestimmte Weise Druck ausüben, drei Mal am Tag – das war die erste Übung. Eine Woche später schaut er wacher in die Welt. Seitdem ist er in Fahrt.

Im Wochentakt kommen die Fortschritte: drehen, rundrobben, Vierfüßler, robben, rocking, Halbsitz, die ersten Löffel Brei. „Ich sehe es selten, dass ein Kind, das so viel Verzögerung in seiner Entwicklung hat, dann auf einmal so schnelle Fortschritte macht“, sagt die Physiotherapeutin. Der größte Unterschied zu vorher liegt aber in etwas ganz anderem: Er ist beziehungs- und bindungsfähig geworden. Raus aus seiner eigenen kleinen Blase kommt er jetzt und will Teil unserer Welt sein. Robbt zu mir und spielt am liebsten direkt neben meinen Füßen. Will Körperkontakt, um beruhigt zu werden. Überprüft immer wieder, ob ich hinschaue, wenn er spielt. Ist bei Fremden vorsichtig geworden und bei Mama und Papa so wie immer. Was soll ich sagen? Es nährt mein Mamaherz. Mein kleiner Sohn nimmt mich wahr als jemand, der für ihn besonders wichtig ist. Das tut so gut.

Im Kontrast wird erst sichtbar, was vorher alles gefehlt hat. Jetzt, wo er Kontakt aufnimmt, wird uns erst bewusst, dass die ersten 10 Monate seines Lebens kaum Kontakt da war. Er war in seiner eigenen Welt: Wenn die innere Uhr gesagt hat, er ist müde, hat er einfach geschlafen, egal, wo wir waren und was um ihn herum passiert ist. Wenn er hungrig war, musste er jetzt gestillt werden und hat dann einfach getrunken. So etwas wie Ablenkung gab es für ihn kaum. Wenn er spielen wollte, hat er das getan. Neue Dinge haben bei ihm wenig Neugier geweckt. Ob ich im Zimmer war oder nicht, wer ihn hält, wickelt, stillt, hat für ihn keinen Unterschied gemacht. Eine Sirene ist losgegangen? Ein Hund fängt plötzlich an zu bellen? Keine Reaktion. Es hat für seine unmittelbare kleine Welt, seine körperlichen Bedürfnisse, keine Rolle gespielt.

Und jetzt will er, dass ich singe, robbt ganz nah an mein Bein, wenn ich Gitarre spiele, und schaut genau hin. Wenn jetzt jemand neben uns aufgeregt was erzählt, kann er sich nicht mehr aufs Trinken konzentrieren. Er kann nicht mehr einfach schlafen, wenn wir auf einer Geburtstagsfeier sind, sondern braucht Ruhe. Jetzt will er wissen, ob er an den Pulli kommt, der da vom Stuhl herunterbaumelt, und probiert es immer wieder. Er ist frustriert, wenn das Nachbarsmädchen ihm die Rassel wegnimmt, mit der er gerade gespielt hat. Er meckert jetzt auch, wenn er keinen Bock hat oder ihm langweilig ist, und nicht nur dann, wenn ein körperliches Bedürfnis unbefriedigt ist. Aber er freut sich auch ganz anders, lacht nicht nur, sondern mich auch an. Er ist wie eine Knospe, die aufgegangen ist; wie ein See, der aufgetaut ist; es ist, als hätte ihn jemand wachgeküsst.

Was heißt das alles jetzt? Wird er auf Dauer den Weg in die Welt der normalen, neurotypischen Kinder finden? Es sieht so aus, als könnte das tatsächlich passieren. Aber keiner kann das wirklich beantworten. Für mich ist das okay. Ich weiß jetzt: Ich bin für ihn seine Mama. Er geht seinen eigenen Weg. Aktuell reicht das.

Liebes Kind,

hier sind wir also. Neurologin sagt, joa, schon auffällig, aber nicht übermäßig besorgniserregend, „ich bin da optimistisch“. Physiotherapeutin sagt „da springt aber jemand gut auf die Übungen an“. Kinderarzt sagt „da wollen wir doch mal sehen, wie du dich unter Therapie so entwickelst“. Es bleibt bei dem „a little special“ – so ein bisschen neben der Spur, aber nicht völlig ab vom Weg.

Du und ich.

Die meiste Zeit sind es wir beide; oft noch Papa, wenn er nicht arbeitet. Die meiste Zeit machen wir es unter uns aus, was das alles heißt. Wer du bist. Wie wir dich sehen. Wie wir in dieser Wirklichkeit leben. Die meiste Zeit leben wir in unserem eigenen Normal.

Wer du bist, Kind, und was mit dir ist, das ist meine eine Frage. Meine andere Frage ist, wer ich bin in dem allem. Wer ich bin als Mutter, als deine Mutter, und als Mutter zwischen Kinderarzt, Neurologin und Physiotherapeutin, als Mutter meines special-Kindes zwischen anderen Müttern von Kindern, die auch, anders oder nicht so special sind. Wer ich bin als Mutter zu Hause, wenn wir zu zweit sind, und sonst keiner da ist. Wer ich bin als Mutter, wenn du anders bist, als ich dachte.

Mein liebes Kind, ich will dir einige Dinge versprechen. Nicht versprechen in dem Sinne, dass ich garantieren kann, dass ich meinem Versprechen immer zu 100% gerecht werde. Ich verspreche sie in dem Sinne, als dass ich sie als Maßstab für mich selbst setzte. Sie sollen meine Messlatte sein.

Ich will dich betrachten als die Person, die du bist, und nicht als die, die du nach diesem oder jenem Maßstab sein solltest. Genau so, wie du bist, will ich dich annehmen und dich spüren und dir begegnen. Für mich brauchst du nicht mehr oder anders sein. Im Fokus sollst immer du selbst stehen und nicht deine Andersartigkeit. Bei mir sollst du dich so herrlich normal und gleichzeitig ganz besonders fühlen dürfen.

Ich will immer offen dafür bleiben, dass du mich überraschst. Du veränderst dich stetig, und ich gebe mein Bestes, mitzukommen. Veraltete Annahmen über dich will ich großzügig aussortieren und für Neues immer bereit sein. Du bist eine leise Seele, vielleicht schnell übersehen, und forderst die Anpassung an deine Entwicklung kaum ein. Ich will die Augen offen halten, hinschauen, mitgehen, mich mitentwickeln. Niemals will ich dich festlegen und sagen „genau so bist und bleibst du“ oder „so etwas kannst du eben nicht“. Stattdessen will ich sagen „jetzt gerade scheint es so zu sein“ und „wer weiß, was werden kann“.

Und ja, natürlich will ich auch die Bärenmama für dich sein. Dafür sorgen, dass du die notwendige Förderung bekommst, dass genau hingeschaut wird, dass du mit deinen Symptomen ernst genommen wirst und all solche Dinge. Dass wir deine Übungen zu Hause machen und auch Papa weiß, wie er es machen soll. Aber das ist nicht das Schwierige. Das geht automatisch, so anstrengend es auch sein mag. Was ich dir versprechen, mir vornehmen möchte, ist: Dass Ruhe einkehren darf. Nicht immer nur Kampf. Quatsch machen zusammen, den Moment genießen. Wegkommen von all den Sorgen und Ansprüchen und Förderungen. Einfach Familie sein.

„Das Wichtigste für ein Kind ist eine glückliche Mama“, predigt meine eigene Mutter mir, seit ich ihr von dem positiven Schwangerschaftstest, deinem ersten Existenznachweis, erzählt habe. Es ist etwas sehr Wahres, Elementares dran an diesem Satz. Mit niemandem hast du so viel zu tun wie mit mir. Die Neurologin erklärte mir, dass dir bis jetzt noch nicht einmal bewusst ist, dass du und ich nicht dieselbe Person sind. Ich präge deinen gesamten Alltag und einen Großteil deiner Interaktionen. All das ist in vielerlei Hinsicht abhängig davon, wie es mir geht. Nein, ich werde mich nicht unter Druck setzen, immer gut drauf und perfekt sein zu wollen. Aber ich werde mein Wohlergehen priorisieren. Was ich will und brauche, das ist in dieser Familie wichtig. Das hat einen Platz. Immer wieder will ich fragen, wie ich alles für mich ein wenig besser gestalten kann. Wie ich für mich sorgen kann. Das mache ich für mich und das mache ich für dich, denn wenn es mir gut geht, bin ich die beste Mutter, die ich für dich sein kann.

Irgendwie stehen wir ganz am Anfang unseres Weges, obwohl wir gleichzeitig auch schon eine ganze Wegstrecke gegangen sind. Du magst erst zwei Händevoll Monate alt sein, aber diese Monate waren zum Bersten gefüllt mit Erfahrungen. Ich bin stolz auf uns zwei. Auf dich, wie du dir deinen eigenen Weg auf deine stoische, unbeirrbare Weise erarbeitest. Und auf mich, die ich schon so viel gelernt habe in deiner kurzen Lebenszeit, über Gelassenheit und Fokus und Akzeptanz.

Mein kleiner Tropf, ich hab dich so lieb, ich platze fast.

In großer Mamaliebe, mit Zuversicht und aus der neu gefundenen Ruhe heraus,

Ich – Mama

a little special

Das ist mein Kind. Das sagen zwar alle Eltern, aber ich habe es offiziell, schwarz auf überweisungsträgerpink: Entwicklungsgestört. Mit einem „G“ – Gesicherte Diagnose.

Was genau dieses „a little special“ ist und ob das wirklich nur „little“ ist, oder ob da etwas tiefgreifendes dahintersteckt, das ist alles noch offen. Wir befinden uns in der Schwebe zwischen Un- und Sicherheit. Wir wissen ein wenig, aber das meiste nicht. Wir wissen etwas besser, was eigentlich die Frage ist, und immer ein wenig genauer, wem wir sie am besten stellen sollten. Wir tasten uns voran. Aktuell tut sich uns der Weg nicht weiter auf als der nächste eine Schritt. Wohin der Weg überhaupt führt, ist eine Frage, die ich versuche, nicht zu oft zu stellen. Zu müßig.

Aber so ganz dagegen wehren kann ich mich nicht. Immer wieder habe ich wie so kleine Visionen in meinem Kopf. Bilder, wie es aussehen könnte. Meine Fantasie kreiert Szenarien, kleine Blitzlichter. Mal schön, mal schwierig. Letztens habe ich Hausschuhe gesehen, die süß waren. Aber wie alt wird mein Kind sein, wenn es laufen lernt? Vielleicht 18 Monate? Vielleicht drei Jahre? Seit Monaten sieht es aus, als würde es jeden Moment anfangen, durchs Wohnzimmer zu rollen. Und doch passiert nichts. Laufen ist unendlich weit weg.

Es ist eine mulmige Schwebe. Schwierig auszuhalten. Und doch geht es. Immer wieder schaue ich mein Kind an und denke mir: „Du hast kein Problem. Dir gehts gut. Ich habe das Problem.“ Ihm ist es herzlich egal, entwicklungsverzögert zu sein. Mein Kind ist ein glückliches, ausgeglichenes kleines Wesen. Es hat keinen Leidensdruck. Den Leidensdruck habe ich.

Es ist ein Leidensdruck, weil es so schwierig ist, nicht zu wissen, was ich erwarten kann – noch viel weniger als andere Eltern. Es ist schwierig, weil ich oft nicht weiß, welchen Maßstab ich anlegen soll – oder vielmehr, weil zwei Maßstäbe gleichzeitig in mir existieren. Es gibt den maßgeschneiderten Maßstab aus Mutterintuition und dem tiefen Kennen meines Kindes und den mir viel zu bewussten allgemeinen, vielleicht medizinischen Maßstab. Viel zu oft sagt der eine Maßstab: „Für ihn war das gerade etwas Großes, Neues“, und der der andere Maßstab zeigt an: „Trotzdem noch lange nicht genug.“ Es ist schwierig, weil das Erleben des Andersseins oft schwierig ist. Schon seit Monaten kann ich nicht mehr unter anderen jungen Müttern sein, ohne bis in die Knochen zu spüren, das bei uns etwas einfach anders ist. Dieses Fremdsein, Anderssein, es macht mir manchmal Angst.

Das Schwierigste aber ist das Emotionale. Ein Kind, das nicht laufen lernt, das ist das Eine. Aber ein Kind, für das ich als Mutter völlig austauschbar bin – das trifft einen völlig anderen, viel tiefergehenden Nerv, und die Angst davor weckt Gefühle, denen ich mich aktuell nicht stellen kann. Hier verdränge ich und sage mir: Unwahrscheinlich, extrem unwahrscheinlich. Und halte mich an allem fest, das darauf hinweist, das mein Kind zu mir eine andere Bindung empfindet als zu jemand Fremdem. Wahrscheinlich hat es eine besondere Bindung zu mir. Aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Und diese kleine Restunsicherheit – die ist das Schwierigste von allem.

Aber was sollen wir tun? Wir können uns nicht konsumieren lassen von diesen Sorgen und Gedanken, mein Mann und ich. Also tun wir, was gerade geht: Uns darauf fokussieren, dass es unserem Kind gut geht. Über all das Mulmige reden, ihm den gebührenden Raum geben – und dann das Thema wechseln. Neue Beobachtungen über unser Kind anstellen und sie nicht allzu sehr zu werten. Wir haben verstanden, dass egal, wie der Weg aussieht, eines nicht passieren wird: Niemand wird uns die eine Spritze, die eine Tablette, die eine Therapie anbieten, und zack, hat sich alles aufgelöst und liegt in der Vergangenheit. Niemand wird uns die eine Antwort geben und auf einmal ist alles klar und einfach. Wir befinden uns auf einem Weg, auf dem auf jede Antwort eine Frage folgt. Ein gewisses Maß an Schwebe, an Unsicherheit, an Hoffen und Bangen wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach eine ganze Weile begleiten. Besser, wir freunden uns damit an. Besser, wir arbeiten jetzt daran, einen guten Umgang damit zu finden.

„Vielleicht löst sich die ganze Symptomatik auch in Wohlgefallen auf“, sagte der Kinderarzt am Ende unseres letzten Termines. Ich meine, ihm anzusehen, dass er so etwas schon erlebt hat. Also bleibe auch ich offen dafür. Mir ist bewusst, dass wir nichts wissen über das, was kommt.

Und weil ich keinen ordentlichen Schlusssatz habe, höre ich hier jetzt einfach auf. Das Kind schläft, mein Mann hat Zeit. Wir spielen jetzt Stardew Valley.

Junge Muttis und der Perfektionismus

Andere junge Muttis sind anstrengend für mich. Entweder sind sie mir zu stressig, machen ein riesen Ding aus Themen, die ich zusammenimprovisiere und so in Ordnung finde, und wecken in mir die Frage, ob ich es nicht vielleicht doch falsch mache. Oder sie schauen mich irritiert an, wenn mir ein Thema wichtig ist und ich mich etwas mehr hineininvestiere, und wecken in mir die Frage, ob ich übertreibe. Hach ja.

Mein Mutti-Ich ist so alt wie mein Baby, was aktuell acht Monate sind. Das ist noch nicht besonders viel. Genau wie mein Baby habe ich dieser Zeit schon sehr viel gelernt. Enorm viel. Eine der Baustellen, die noch vor mir liegt, ist dieses gelassene Selbstverständnis als unperfekte Mutti.

Es sind die Gegensätze, die es so schwierig machen: Klar will ich das Beste für mein Kind. Aber ich will auch gelassen und emotional verfügbar sein. Es gibt eine Milliarde Themen bei einem Baby, in denen ich mich auf der Suche nach dem Besten verrennen kann. Manchmal gibt es tatsächlich ein „richtig“ und ein „falsch“, und dann würde ich es schon gerne richtig machen. Oft ist das Beste für mein Baby aber auch, einfach irgendeine Zahnpasta, Sonnencreme, Schnuller zu kaufen und es einfach irgendwie schlafen zu legen und irgendwas essen zu lassen, und mir meine Energie zu sparen, um eine entspanntere, geduldigere Mutti zu sein.

Der Druck der Gesellschaft, unserer Kultur, auf junge Mütter ist für mich beinahe körperlich spürbar. Das macht alles noch so viel schwieriger. Jetzt muss ich nicht nur mit meinem eigenen Perfektionismus kämpfen, sondern mich auch noch vor diesen anonymen Augen rechtfertigen. Es ist unmöglich, allen Ansprüchen zu genügen, und klar, am Ende muss ich meinen eigenen Weg finden, und das tue ich auch.

Aber genau das macht andere Muttis so anstrengend. Jede von uns kämpft um ihren eigenen Weg. Und wenn mal eine labile Entscheidung getroffen, ein labiles Gleichgewicht gefunden wurde, dann ist es irritierend, wenn eine andere Mama zu einem anderen Ergebnis gekommen ist. So schnell hinterfrage ich mich dann doch wieder, obwohl ich es nicht will. Vergleichen ist so anstrengend.

So erinnere ich mich immer wieder: Es gibt viele richtige Wege. Es geht darum, welcher Weg zu dir und deiner Familie passt. Gestalte es so, dass es dir Spaß macht und sowohl dir als auch dem Baby gut damit geht. Wenn da eine andere Mutti ist, die die Dinge anders macht, dann wertet dich das nicht ab; dann ist das keine Aufforderung, dich zu hinterfragen. Es ist einfach nur eine andere Mutti auf ihrem Weg.

So richtig weiß ich noch nicht, wie ein Beisammensein mit anderen Mamas funktioniert, dass es wirklich aufbaut und ermutigt und nicht gleichzeitig auch sehr anstrengt. Vielleicht kommt das, wenn ich sicherer geworden bin. Vielleicht kommt das nie so richtig.

Vielleicht ist es genauso, wie es immer war: Als Student in der Klausurenphase war nichts so anstrengend wie andere Studenten in Klausurenphasen. Vielleicht brauche ich gerade auch einfach die Anderen, um gut bei mir selbst sein zu können: die Single-Freunde, kinderlosen Paare, Mütter von groß gewordenen Kindern, die Teenies. Die, die mir zeigen, dass die Welt größer ist als die Frage danach, wie man ein Kind händelt, dass kein Bock auf Beikost hat, was das für Pickelchen auf der Wange sind und ob wir mit Einschlafstillen gut fahren oder wir es uns abgewöhnen sollten. Die, die mir demonstrieren: Es gab ein davor und es wird ein danach geben, und im Großen und Ganzen sind all diese Fragen nicht so wichtig.

Bauch versus Rücken

Seit über zwei Monaten bewege ich mich kaum noch. Die Schwangerschaftssymptome haben mich wahlweise ans Bett oder an die Toilette gefesselt (gut kombinierbar durch eine Luftmatratze im Bad, nur mal so als Profitipp), ganz sicher aber haben sie mich nicht großartig aus der Wohnung gelassen. Einige meiner Symptome scheinen bewegungssensitiv zu sein – sie werden schlimmer, wenn ich z.B. die Treppe in den Keller gehe.

Muskeln, die man nicht benutzt, bilden sich zurück. So heißt es. Und mein Körper bestätigt das. Inzwischen fühlt es sich an, als würden mir langsam sogar die Muskeln zum normal sitzen fehlen. Ständig verfalle ich in irgendwelche komischen Haltungen, weil es sonst zu anstrengend ist.

Das kann nicht gut sein. Vor allem, wenn ich meinen Bauch betrachte, der langsam aber sicher größer wird. Eigentlich brauche ich gerade jetzt Muskeln.

Ich muss etwas tun. Ich will etwas tun. Ich habe mir vorgenommen, immer, wenn es mir gerade irgendwie ein bisschen okay geht, Übungen für den Rücken zu machen. So viel, wie eben geht. In der Hoffnung, dass meine Muskulatur schneller wächst als mein Bauch. In der Hoffnung, dass ich diese Schwangerschaft vielleicht irgendwann noch etwas anderes machen kann als das Bett, die Toilette und die Couch hüten. In der Hoffnung, dass ich dann, wenn es mir besser geht – ob das in den nächsten Wochen passiert oder irgendwann nach der Geburt – nicht komplett bewegungsunfähig eingefroren bin.

Wünscht mir Glück.

der neue Zustand bzw. mein Leben

Rechts und links von meinem Dorf brennt der Wald. Panisch packe ich irgendwelche Dinge zusammen, die es wert sein könnten, sie zu retten. Mein Mann ist nicht da, er ist irgendwo weit weg, in Sicherheit. Mit jedem Weg zum Auto verändert sich das Aussehen des Treppenhauses, neue Türen, neue Räume…

Ich wache auf. Mir ist schlecht. Warum ist mir schlecht? – Ach ja, ich bin schwanger. Ich dämmere irgendwo zwischen Traum und Realität. Mir ist heiß. Es ist nicht wirklich abgekühlt heute Nacht. Ich hab Durst.

Auf dem Weg zur Toilette betrachte ich meinen Bauch. Öffentlichkeitswirksam ist er noch nicht, aber wer meinen Körper vor der Schwangerschaft mal gesehen hat, kann den Unterschied nicht leugnen. Eigentlich war mein Bauch immer eine Delle. Unten sah man die Knochen der Hüfte hervorstehen, oben die Knochen der Rippen. Das ist jetzt Vergangenheit. Alles ist runder, weicher. Und zwischen Hüfte und Rippen wölbt es sich nach vorne. Wahrscheinlich in einer Weise, wie es für andere unschwanger normal ist. Ich kann mich also noch inkognito bewegen.

Ich nehme Vomex, ein wahres Geschenk der modernen Medizin – ohne wäre ich wahrscheinlich in den letzten Wochen irgendwann auf Station gelandet, völlig abgemagert und dehydriert. Und frage mich, wo um alles in der Welt ich inkognito hinsollte. Die Realität meiner Schwangerschaftssymptome ist eine andere.

Mein „eigentliches“ Leben ist gerade vollständig pausiert. Ich rechne nach – seit ziemlich genau acht Wochen. Mein normales Leben liegt irgendwo oben auf dem Schrank in einer Kiste, und ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie es eigentlich aussah. Keine Ahnung, was ich den ganzen Tag gemacht habe, was mich beschäftigt hat. Jetzt beschäftigt mich: Gibts irgendwas, was ich essen kann, bis das Vomex wirkt? Wie steht es um meinen Kreislauf? Wo ist der nächste Eimer und wo die nächste Möglichkeit, mich hinzulegen? Fühle ich mich heute in der Lage, Auto zu fahren, oder wäre das fahrlässig? Brauche ich neue Medikamente? Wann ist mein nächster Arzttermin? Wie beschäftige ich mich, wenn ich nichts machen kann, aber auch nicht schlafen kann? Ist das noch normal, was meine Psyche macht?

Mein Mann fährt 60km Fahrrad und geht danach noch eine Stunde spazieren. Ich kann nur den Kopf schütteln. Mein Zusammensacken ist so häufig geworden, dass ich die Wohnung kaum noch alleine verlasse. Mein letzter Spaziergang, der länger ging als 10 Minuten, ist viele Wochen her.

Ich weiß zwar nicht mehr, wie mein Leben normalerweise so aussah. Aber ich weiß, dass sich das hier auch nach Wochen nicht normal anfühlen will.

Angeblich, so heißt es, ist das zweite Trimester besser als das erste. Die Symptome werden weniger. Überall wird von einem „Energieschub“ geredet, der dann kommt. Ich bin im zweiten Trimester. Mein Energieschub hat jetzt bereits zwei Wochen Verspätung. Vielleicht kommt er ja noch.

Und irgendwie, warum auch immer, ist der Baby-Aspekt des Ganzen weit weg und schwer greifbar. Ich kann es nicht spüren, ich kann es nicht sehen. Das Internet verrät mir, wie sich mein Baby gerade entwickelt. Die Gyn zeigt mir weiß auf schwarz in Kartoffelqualität, wie es wächst. Aber ich kann es nicht greifen. Ich wünsche mir immer noch genauso ein Baby wie vor der Schwangerschaft. Wünsche es mir, als würde ich es nicht gerade ausbrüten. Mag nichts für das Baby kaufen, mag mich nicht mit Namen beschäftigen. Es würde sich vermessen anfühlen. Als wäre das einfach noch nicht dran und ich würde weit vorauseilen, wenn ich mich damit beschäftigen würde. So als würde ich das Navi für ein Auto kaufen, für das ich nicht einmal angefangen habe, zu sparen.

Ja, ich bin schwanger. Das ist nicht zu leugnen. Es ist alles, was mein Leben gerade ausmacht. Schwanger sein ist für meinen Körper, meine Psyche so übermächtig, dass es nichts anderes mehr gibt. Aber dass das bedeutet, dass ein Baby kommt, dass es schon da ist, irgendwo da tief in mir, und irgendwann auf meinem Arm – das will einfach nicht bei mir ankommen.

Hallo Kleines, du da unten.
Ich wünschte, du könntest mich schon treten und boxen. Mich spüren lassen, dass es dich gibt, du lebst, du wächst und irgendwann da raus willst. Ich wünschte, du könntest mir von innen einprügeln, was ich sonst scheinbar nicht verstehen will. Ich weiß, dir gehts gut. Du wächst und gedeihst, während ich auf Zahnfleisch gehe. Wie auch immer das möglich ist. Wie kann es uns so unterschiedlich gehen, wenn doch dasselbe Blut durch unsere Adern fließt? Aber, mein Kleines – ich bin ja froh drum. Solls mir halt schlecht gehen, solange es dir gut geht. Nimm mein Jammern nicht persönlich. Bald kannst du mich zur Strafe in die Blase treten, wenn ich dir zu viel jammere. Ich freu mich drauf.

Mama

(Mama???)

Winterdepressionen.

Es ist der 10. März. Die letzten Tage waren sehr sonnig. Vermutlich bleibt es noch eine Weile so. Mit der Sonne taut es in meiner Seele. Sie löst sich aus der Erstarrung, saugt sich langsam voll und beginnt zu atmen, als wäre es das erste Mal.

Ich werde mit Solarenergie betrieben. Zu wenig davon, und ich funktioniere nicht mehr richtig. Das liegt daran, dass mein innerer Tagesrhythmus labil ist. Ich brauche das Licht, damit mein Körper versteht, dass es jetzt Tag ist, und damit er mich in den Wach-und-Aktiv-Modus schaltet. Melatonin runter, Serotonin hoch, auf in den Tag. Im Sommer gibt es durchschnittlich am Tag acht Sonnenstunden. Da ist alles cool. Im November, Dezember und Januar sind es gerade mal knapp über eine Sonnenstunde am Tag – und diese Sonnenstunde ist die tiefe, trübe Wintersonne. Das reicht vorne und hinten nicht.

Viele Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, was genau da in mir vor sich geht. Ich habe ein sehr bewegtes Leben. Bis jetzt sind mir häufig Dinge passiert, die mich traurig, wütend, gestresst werden lassen. Ich dachte immer, wenn es mir schlecht geht, liegt es an diesen Dingen. Erst, als letzten Winter einmal wirklich kein Grund mehr übrig war und es mir trotzdem schlecht ging, kam so langsam die Erkenntnis: Ich habe ein ganz anderes Problem als gedacht. Als dann Frühling kam und sich in mir ein Schalter umlegte und ich auf einmal wieder lebendig war, wusste ich dann Bescheid.

Der Winter, der jetzt gerade zu Ende geht, war der erste Winter, an den ich von vorne herein herangegangen bin in dem Wissen, dass Winterdepressionen auf mich zukommen. Es war echt schlimm, zu wissen, dass das kommt. Den ganzen Frühling, Sommer, Herbst 2021 hätte ich jedes Mal heulen können, wenn ich darüber nachgedacht habe, dass wieder ein Winter kommt. Die Erinnerungen an den letzten Winter steckten mir tief in den Knochen, und das wollte ich auf gar keinen Fall wieder.

Also habe ich einen Plan geschmiedet. Mit einer Tageslichtlampe hatte ich in den Jahren vorher bereits Erfahrungen gemacht. Damals nicht so sehr als Therapie, mehr im Sinne von „och, das ist doch nett, wenn es sonst so dunkel ist, und vielleicht geht es mir damit etwas besser“. Ich mochte die Lampe immer, aber ich hätte jetzt nicht sicher sagen können, dass sie wirklich einen merklichen, andauernden Effekt auf mich hat. Jetzt hatte ich nochmal recherchiert und alle Regeln und Tricks für die Lampe herausgefunden – morgens, im Optimum länger als eine halbe Stunde, und je früher, desto besser.

Dann kam das Thema Medikamente. Ich habe geahnt, dass die Lampe nicht reicht. Mehr Hilfe war gefragt. Und so hatte ich bald eine Packung Citalopram – ein Antidepressiva – auf meinem Schreibtisch liegen, bereit für den Tag, an dem es wirklich losgeht.

Über den Winter habe ich gemerkt, dass ich tatsächlich beides brauche – sowohl die Lampe als auch die Medikamente. Beim Herumprobieren habe ich festgestellt, dass keins von beidem allein ausreicht. Ich habe auch gemerkt, dass ich im Januar mein Medikament nochmal erhöhen muss – von einer halben auf eine ganze Dosis täglich. Im Februar konnte ich die Dosis wieder reduzieren. Jetzt ist es März, sonnig, warm, und ich kann anfangen, die Tabletten und die Lampe wieder auszuschleichen.

Ich habe meinen ersten Winter mit Winterdepressionstherapie geschafft.

Und ich bin so dankbar. Es hätte gut passieren können, dass ich auf das Medikament nicht gut anspringe oder dass ich Nebenwirkungen bekomme, die nicht tragbar sind. Aber nein – selbst auf die halbe Dosis bin ich so gut angesprungen, dass sie für den größten Teil des Winters gereicht hat. Meine einzige merkliche Nebenwirkung war, dass mir leichter übel wurde. Busse und Aufzüge wurden für mich Tabu. Zum Glück lassen sich diese Dinge in meinem Alltag leicht vermeiden. Ansonsten – nichts. Keine Appetitlosigkeit, kein Verlust der Libido, keine Kopfschmerzen.

Winter ist machbar. Das ist mein Ergebnis. Auch mit Lampe und Medikamenten fühlt er sich nicht so leicht an wie der Rest des Jahres, aber das ist okay. Es ist okay, wenn Winter schwermütiger und drückender ist. Es ist okay, wenn ich im Winter weniger schaffe und mich mehr verkrieche. Es ist okay, weil ich trotzdem noch aus dem Bett komme, weil ich die Lust zu leben nicht verliere, weil ich alles wichtige trotzdem noch machen kann, weil ich die Freude an anderen Menschen behalte, weil ich immer noch lebe statt nur zu überleben.

Und das ist gut. Das ist sehr gut zu wissen. Dieses Jahr brauche ich keine Angst mehr vor dem Winter zu haben. Ich weiß, was auf mich zukommt, und ich weiß, wie ich es händeln kann.

Danke, Jesus, dass du einen Weg für mich gemacht hast.