Die Erinnerungen an den Himmel

Texte aus einer schweren Zeit 4/4

Weg von den schwer wiegenden Wochen vor mir und weg von all den Schranken und Zäunen und Mauern um mich herum schaue ich jetzt hin zu etwas anderem. Denn vielleicht ist dies gar nicht die Zeit für Sorge und Schwere und Pläne und Angst. Vielleicht ist jetzt genau die richtige Zeit zum Feiern.

Komm, wir feiern die kleinen Schritte und alles, was noch geht, was wieder geht, was weiter geht.

Ich will jeden Abend feiern, an dem meine Gesundheit zulässt, dass ich mein Fahrrad nach Hause fahre anstatt es zu schieben. Jeden Morgen, an dem mich nicht trübe Gedanken wecken, sondern Hoffnung da ist. Jeden Uni-Tag, an dem ich Freude am Lernen finden kann statt von meinen Grenzen enttäuscht zu sein. Jedes Mal, wenn ich es schaffe, liebevoll mit mir selbst zu sein, wenn ich etwas nicht kann. Jedes Mal, wenn ein Nein meinen Mund verlässt, wenn ich merke, etwas wäre mir zu viel. Jedes Mal, wenn ich wieder von etwas träume. Jedes Mal, wenn meine Seele die Stille wieder genießen kann und nicht vor ihr davon laufen muss. Jeden Text, in dem Licht zu finden ist. Jedes Gespräch, in dem ich weg von meiner eigenen Not hin zu jemand anderem schauen kann. Jedes Lachen, das den Weg in mein Herz findet. Jede Träne, die zugelassen und geweint wurde.

Einen Monat ist es her, da habe ich in mein Notizbuch einen kurzen Gedanken gekritzelt:

Der Vogel mit den zerbrochenen Flügeln,
er läuft, er flattert,
er sucht seine Erinnerungen an den Himmel.

Komm, wir feiern die lebendigen Erinnerungen an den Himmel. Ich versuche aus einer stockfinsteren Zeit den Weg ins Licht zu finden und heute will ich die kleinen Schritte feiern – klein, aber doch große Kämpfe. Unscheinbar, aber doch bedeutend. Ungesehen, doch sie machen den ganzen Unterschied.

Und deine Schritte, deine kleinen großen Schritte, die feiern wir gleich mit.

Erzähl doch mal von deinen Schritten in den Kommentaren, wenn du magst :-)

Hallo Spiegelfrau

Texte aus einer schweren Zeit 3/4

„Mama. Guck mal. Ich seh so anders aus. Ich sehe so traurig aus. So traurig habe ich noch nie ausgesehen.“

Ich stand vor dem Badezimmerspiegel. Ein paar Stunden zuvor war ich ohne Vorwarnung von der glücklichen Freundin zur abgelehnten und fortgeschickten Ex-Freundin geworden. Seitdem zerbrach ich langsam.

Mama schaute mit mir zusammen mein Spiegelbild an und sagte: „Ja, jeder Schmerz hat sein eigenes Gesicht.“

„Trauer. Es ist reine, destillierte Trauer. Da ist nichts anderes mehr.“

Ich weinte.

Die Tage und die Wochen vergingen, jetzt sind es Monate, und der Tod und die Krankheit gesellten sich dazu in mein zerschlagenes Herz. Die Blicke in den Spiegel – auf der Suche nach mir. Nicht danach, ob ich okay aussehe, ob die Haare sitzen und ich so rausgehen kann. Die Suche nach dem, wie es dieser Frau im Spiegel geht, was sie ausstrahlt, was ihr Gesicht zeichnet. Blicke in die Nacht.

Heute schaue ich wieder in den Spiegel, schaue auf meine Tränen. Der Schmerz dieser ganzen letzten Zeit hat tiefe Furchen eingegraben und harte Kanten gezeichnet. Die Augen trüb, doch die Tränen machen sie wieder klar, und ich denke:

Hallo Spiegelfrau. Hallo.

Da bist du ja. Und da ist ja auch das alles – die Trauer, die Verzweiflung, die Überforderung, die Wut, die Anstrengung, die Mutlosigkeit, der Frust. Und die Entschlossenheit ist auch da und das kleine bisschen Hoffnung. Spiegelfrau, du hast ein Gesicht aus Scherben. Du bist erschöpft und morgen wirst du wieder aufstehen, auch wenn du dir das jetzt noch nicht vorstellen kannst. Heute gab es einen Weg für dich. Morgen wird es wieder einen geben. Wenn du das heute noch nicht glauben kannst, dann ist das okay. Es ist okay.

Verschüchterte Augen blicken zurück. Augen, die wissen: Auch wenn ich fliehen will, werde ich bleiben. Auch wenn es hart ist, werde ich weitergehen. Auch wenn es weh tut – weil das Leben eine Einbahnstraße ist und es nur vorwärts geht. Weil ich nicht aufgebe.

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Es ist nicht okay

Texte aus einer schweren Zeit 2/4

Auf einer Trauerfeier vor ein paar Tagen wurde ein Lied gesungen, in dessen Bridge der Satz „Things are not okay right now“ einige Male wiederholt wurde und das hat so gut getan. Auch vorher schon kam es im Lied vor: „Things as they are are not okay“. Irgendwas daran, das auszusprechen, auszusingen, war befreiend. Warum?, habe ich mich gefragt. Warum tut das gut?

Die Hände, die mein Herz geformt haben, waren gut.
Der Ort, an dem mein Herz geformt wurde, war gut.
Die Welt, in der dieses Herz jetzt lebt, ist nicht gut
und ich bin nicht für hier gemacht.

Ich bin gemacht für einen anderen Ort. Jedes Menschenherz ist gemacht für einen anderen Ort. In uns ist die Sehnsucht nach einer guten, heilen und gerechten Welt. Die Welt war mal so. Seit Adam, Eva und der Schlange ist sie nicht mehr so.

Und das ist nicht okay.

Mein Herz, das – seit es Gott kennen gelernt hat und das erste Mal einen Hauch Himmelsluft riechen durfte – so oft Heimweh nach dem Himmel hat, es weiß, was richtig und gut ist und was nicht. Mein Herz, das für Wahrheit gemacht ist, es muss es endlich mal aussprechen dürfen:

Es ist nicht okay.
Es ist nicht okay, dass Menschen sterben.
Es ist nicht okay, dass Menschen immer wieder krank werden.
Es ist nicht okay, dass ein Mensch einen anderen verletzt.
Es ist nicht okay, dass Beziehungen und damit auch Herzen zerbrechen.
Es ist. Nicht. Okay.

Mein Herz muss es aussprechen dürfen, weil all dies Dinge sind, die mein Herz an einen sehr finsteren Ort gebracht haben. Viele Worte sind bis an diesen Ort gekommen, um meinem Herz zu raten, und einige Stimmen davon sagten:

Du musst akzeptieren. Du musst vergeben. Du musst loslassen. Du musst weitergehen.

Ich weiß, dass das stimmt. Aber vor dem allem fehlt noch etwas: Vorher muss Licht ins Dunkel. Vorher muss ich Wahrheit aussprechen. Vorher darf, nein, muss mein Herz sich erheben und sagen:

Nein, ich bin nicht Gott, aber ich kenne ihn. Nein, ich war nicht im Himmel, aber ich habe eine Ahnung von ihm. Und weil ich diesen guten Gott kenne und von diesem guten Ort eine Ahnung habe, deswegen darf ich sagen: So, wie es gerade ist, ist es nicht okay. Es ist nicht so, wie es sein soll. Alles was wahr, gerecht und gut ist, kann das nicht akzeptieren.

Und weil ich die Bibel bis zum Ende gelesen habe, weiß ich auch, dass es so, wie es ist, nicht dauerhaft akzeptiert werden wird.

Erst darin ist Frieden. Ist Zuflucht. Es wird nicht immer so sein, aber hier auf dieser Erde, hier ist es so. Deswegen beginne ich, es zu akzeptieren. Bald werde ich vergeben können. Bald werde ich loslassen können. Bald werde ich weitergehen können. Und dann wird es für mich okay sein.

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Mutig und stark?

Texte aus einer schweren Zeit 1/4

Ich wäre so gern mutig und stark.

Schwach sein, das hat seinen Reiz, wenn eine starke Schulter in der Nähe ist. Aber wenn man merkt, dass da niemand ist, und dass ich jetzt gerade vielleicht nicht ganz alleine, aber doch für mich selbst hier stehe und für mich selbst kämpfen muss, dann mag ich überhaupt gar nicht mehr schwach sein.

Mutig sein, das war leicht, als ich das Ziel gesehen habe. Als ich wusste, wofür, und wohin ich will. Wenn da aber Nebel ist und man gar nicht mehr das Gefühl hat, dass es den Aufwand, den Mut, den Einsatz wert ist – Ich bin nur noch mutig, weil ich keine Wahl habe. Ich gehe nur noch voran, weil das Leben eine Einbahnstraße ist. Ich gehe, weil ich mich weigere, stehenzubleiben.

Ich wäre so gern mutig und stark.

Stattdessen drehe ich mich im Kreis, immer im Kreis: Die Erinnerungen. Wie schwer es mir fällt, dass alles jetzt doch so anders ist. Wie ungerecht das ist. Wieso den Menschen, die mir so weh tun, scheinbar alles gelingt. Wie es gewesen wäre, wenn ich mich in dieser oder jener Situation anders verhalten hätte. Was ich machen würde, wenn ich diesen oder jenen Menschen aus der Vergangenheit nochmal träfe. Was ich ihnen heimzahlen will. Wie ich ihnen demonstrieren kann, was sie mir angetan haben. Falls sie das überhaupt interessiert.

Ich weiß, ich sehe, ich fühle, wie mich das kaputt macht. Und trotzdem höre ich nicht damit auf. Ich weiß nicht wie. Kontrolle über meine Gedanken zu übernehmen ist so schwer.

Ich will akzeptieren, dass es ist, wie es ist. Ich will nicht mehr immer zurückdenken, voller Trotz, Reue, Wut, Ärger, Fassungslosigkeit, Trauer. Ich will im Jetzt ankommen und die ganzen alten Vorstellungen der Zukunft, Wünsche, Träume und Hoffnungen begraben. Ich will vergeben. Ich will vergessen, heil sein, es ungeschehen haben, mich fühlen, als sei das alles nicht passiert – oder als sei der Schmerz nicht passiert.

Ich habe aufgehört, zu träumen. Zu hoffen. Was vorher Licht war, auf das ich zugesteuert habe, sind jetzt Schreckensgeister oder fade Eintönigkeiten, zu den ich eigentlich gar nicht hinwill – gefangen im Festhalten an Zielen, die jetzt unmöglich geworden sind. Wie ich nicht aufhöre, mich zu wehren gegen die Realität und den Zerbruch… als könnte ich etwas ändern. Als könnte ich etwas zurück bekommen.

„Ich kann nicht mehr“ und „Ich will nicht mehr“ – erst vor zwei, drei Wochen habe ich einem Mädchen beigebracht, dass sie diese Denkweisen nicht weiterbringen werden. Und jetzt weiß ich selbst nicht, wie ich weiterkommen soll. Ich sehe nicht, wohin. Wozu überhaupt. Ich fühle mich kraftlos und schwach. Perspektivlos. Mutlos.

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Tränenspuren werden schneller kalt

Tränenspuren werden im Winter schneller kalt als der Rest des Gesichts.

Raureif. Als ich heute zum ersten Mal Raureif gesehen habe, musste ich lachen. Ich musste lachen, weil Raureif etwas so Schönes und Wunderbares ist und ich mich freue, dass es ihn gibt. Ich liebe den Winter und ich liebe die Kälte. Ich liebe es, mich dick einzupacken, bevor ich rausgehe, und mich dann mollig warm zu fühlen, während kalte Luft die Wangen streift.

Kalte Luft streift Tränenspuren. Eiskalte Linien. Schnell trockne ich sie ab.

Ich weiß einfach nicht, was ich dir antworten soll, wenn du mich fragst, wie es mir geht.

Die Tasche packen und weiterziehen

Über den dritten Anfang, nachdem zwei Anfänge in Einsamkeit und Verletzung gemündet sind

Es hat sich gut angefühlt, mein ganzes Leben in einen großen, roten Wanderrucksack von 15 kg zu packen und in ein fernes Land zu ziehen. Noch besser hat es sich angefühlt, mein ganzes Leben in einen großen, roten Wanderrucksack von diesmal 17 kg und einen kleinen, grünen, sehr ökonomisch gepackten Trolly  von 12 kg zu packen und wieder nach Deutschland zurück zu kommen. Das erste Packen ist nun etwas mehr als ein Jahr her. Das zweite ein paar Monate.

Ich möchte das wieder machen.

Ich möchte wieder eine nicht allzu große Tasche nehmen und überlegen, was ich wirklich brauche. Ich möchte wieder alles zurück lassen, was mich nicht wirklich davon überzeugen kann, dass ich es brauche. Ich möchte wieder alle meine Dinge reduzieren auf ein bisschen, auf eine oder zwei Taschenfüllungen.

Denn ich fühle mich schwer.

Ich fühle mich beladen mit ganz vielen Dingen, die ich nicht mehr haben möchte. Mit Beziehungen, die zu pflegen mich nur anstrengt. Mit Vertrautheit, der mehr beengt als Geborgenheit gibt. Mit Blicken auf mir, gefärbt von Vergangenheit – Vergangenheit, in der ich anders war als jetzt. In der ich gerne anders gewesen wäre, als ich es wirklich war.

Ich will weg.

Vielleicht ist das ein Fluchtinstinkt. Ja, natürlich ist das ein Fluchtinstinkt. Ich fliehe vor Menschen, Themen, Orten, die mir schwer fallen. Ich fliehe vor schwierigen Gesprächen und noch schwierigeren Entscheidungen, fliehe vor der Vergangenheit. All das ist schwer. Ich will leicht sein und mich leicht fühlen. Ich fühle mich nicht leicht. Ich fühle mich angespannt, und wenn ich an mir herunter sehe, entdecke ich meine Hand viel zu oft als Faust, unbewusst geballt angesichts meines Lebens.

Was ich nicht wieder möchte, ist neu anfangen. Am liebsten wäre mir eine Lücke, eine Pause, eine Zeit, in der ich nichts muss – eine Auszeit. Ich habe Angst vor dem Neuanfang. Ich habe Angst, meinen Platz nicht zu finden, keine guten Freunde zu finden, mich unwohl zu fühlen. Ich habe Angst vor dem Haken, den ich nach all den Schlägen und Enttäuschungen der letzten Monate automatisch erwarte. Der Haken, der alles zerstören wird. Er muss da sein. Es gibt ihn immer.

Es gibt ihn nie.

Ich weiß das, weil ich gesehen habe, wie aus Asche und Schmerz Gold wird. Weil ich eigentlich ja schon weiß, wie das geht. Doch das nimmt einem nicht die Angst, und der Bruch, der durch mein Vertrauen geschlagen ist, als ich allein gelassen wurde, er geht tiefer als nur diese Beziehung, er nimmt mir noch viel mehr, hat mir einen lauernden Blick eingeimpft, ein Misstrauen, ein das-Schlimmste-Erwarten. Ich bin nicht mehr so frei und unbedarft wie früher.

Wenn ich diesmal meine eine oder meine zwei Taschen voll packe, und in ein paar Wochen wird es soweit sein, dann will ich das nicht mitnehmen. Diese Schwere, das Misstrauen, die Verletzung. All mein gebeutelt-sein, das möchte ich nicht einpacken. Heilung, die packe ich ein.

Ich weiß, dass das nicht geht. Dass es Dinge gibt, die mitkommen, weil sie zu mir gehören, ob ich das will oder nicht. Ich weiß das.

Vielleicht will ich auch gar nicht meine Tasche packen und los ziehen. Vielleicht will ich viel lieber die Decke über den Kopf ziehen und so tun, als gäbe es mich nicht und als hätte es mich nie gegeben. Dann wär ich ganz leise, versteckt in mir, und keiner kann mich finden. Ein Igel in Tarnfarben. Die Welt ist mir zu viel, und meine Welt noch viel mehr. Es gibt mich nicht mehr, denn ich kann nicht mehr. Ich hab keinen Mut, ich verstecke mich, es lohnt sich nicht.

Doch, es lohnt sich.

Ich packe meine Tasche in das Auto und ziehe um.

Jemand, der mir beim Klavier spielen zuhört

„Darf ich zuhören?“

„Ja“, flüstere ich zurück.

Die Welt zerbricht. Manchmal tut sie das. Dann steht man da und versteht nicht, wie das, was vorher heile war, jetzt kaputt ist. Mit einem Mal zerschlagen. Der Schock kommt, der Schock geht, Tränen und Gedanken und Erinnerungen, ich kann kaum atmen – irgendwie weiter. Und jetzt?, fragt es in mir, fragt es beständig in mir, nach jedem neuen Bruch. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe für all das. Ich sehe nicht, wie ich den Weg schaffen soll, der da vor mir liegt. Gebeutelt, wie ich bin. Verletzt. Zerbrochen.

Sommerlagerluft ist abends kühl, und die Metallringe des Eingangs des großen Veranstaltungszeltes klirren, als die Zeltplane ein wenig zur Seite geschoben wird. Ich habe Klavier gespielt, alleine, wie schon so manches Mal am Abend, wenn beinahe alle anderen beschäftigt sind. Ich habe versucht, Musik zu machen, die macht, dass mein Inneres durch den Schmerz und das Chaos hindurch zu Gott kommen kann. Allein und versunken in dem großen Zelt am Klavier. Jetzt stocke ich, sehe mich um, erkenne, wer da hinein gekommen ist, versuche, mich nicht ganz durcheinander bringen zu lassen. „Darf ich zuhören?“ – beinahe schon zaghaft gefragt.

„Ja.“

Jemanden zu haben, der zuhört, wie man Klavier spielt, wenn die Seele zerbrochen ist – jemanden, der einen Schritt weiter gehen kann als reden und beratschlagen und ablenken, nämlich ganz ruhig da sein und schweigen – so jemanden zu haben, und wenn auch nur für zwanzig Minuten, wenn auch nur ausgeliehen für diesen Moment – das macht den ganzen Unterschied.

Den Unterschied, den ich brauche, um an Mut für den nächsten Tag zu glauben.