Winterdepressionen.

Es ist der 10. März. Die letzten Tage waren sehr sonnig. Vermutlich bleibt es noch eine Weile so. Mit der Sonne taut es in meiner Seele. Sie löst sich aus der Erstarrung, saugt sich langsam voll und beginnt zu atmen, als wäre es das erste Mal.

Ich werde mit Solarenergie betrieben. Zu wenig davon, und ich funktioniere nicht mehr richtig. Das liegt daran, dass mein innerer Tagesrhythmus labil ist. Ich brauche das Licht, damit mein Körper versteht, dass es jetzt Tag ist, und damit er mich in den Wach-und-Aktiv-Modus schaltet. Melatonin runter, Serotonin hoch, auf in den Tag. Im Sommer gibt es durchschnittlich am Tag acht Sonnenstunden. Da ist alles cool. Im November, Dezember und Januar sind es gerade mal knapp über eine Sonnenstunde am Tag – und diese Sonnenstunde ist die tiefe, trübe Wintersonne. Das reicht vorne und hinten nicht.

Viele Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, was genau da in mir vor sich geht. Ich habe ein sehr bewegtes Leben. Bis jetzt sind mir häufig Dinge passiert, die mich traurig, wütend, gestresst werden lassen. Ich dachte immer, wenn es mir schlecht geht, liegt es an diesen Dingen. Erst, als letzten Winter einmal wirklich kein Grund mehr übrig war und es mir trotzdem schlecht ging, kam so langsam die Erkenntnis: Ich habe ein ganz anderes Problem als gedacht. Als dann Frühling kam und sich in mir ein Schalter umlegte und ich auf einmal wieder lebendig war, wusste ich dann Bescheid.

Der Winter, der jetzt gerade zu Ende geht, war der erste Winter, an den ich von vorne herein herangegangen bin in dem Wissen, dass Winterdepressionen auf mich zukommen. Es war echt schlimm, zu wissen, dass das kommt. Den ganzen Frühling, Sommer, Herbst 2021 hätte ich jedes Mal heulen können, wenn ich darüber nachgedacht habe, dass wieder ein Winter kommt. Die Erinnerungen an den letzten Winter steckten mir tief in den Knochen, und das wollte ich auf gar keinen Fall wieder.

Also habe ich einen Plan geschmiedet. Mit einer Tageslichtlampe hatte ich in den Jahren vorher bereits Erfahrungen gemacht. Damals nicht so sehr als Therapie, mehr im Sinne von „och, das ist doch nett, wenn es sonst so dunkel ist, und vielleicht geht es mir damit etwas besser“. Ich mochte die Lampe immer, aber ich hätte jetzt nicht sicher sagen können, dass sie wirklich einen merklichen, andauernden Effekt auf mich hat. Jetzt hatte ich nochmal recherchiert und alle Regeln und Tricks für die Lampe herausgefunden – morgens, im Optimum länger als eine halbe Stunde, und je früher, desto besser.

Dann kam das Thema Medikamente. Ich habe geahnt, dass die Lampe nicht reicht. Mehr Hilfe war gefragt. Und so hatte ich bald eine Packung Citalopram – ein Antidepressiva – auf meinem Schreibtisch liegen, bereit für den Tag, an dem es wirklich losgeht.

Über den Winter habe ich gemerkt, dass ich tatsächlich beides brauche – sowohl die Lampe als auch die Medikamente. Beim Herumprobieren habe ich festgestellt, dass keins von beidem allein ausreicht. Ich habe auch gemerkt, dass ich im Januar mein Medikament nochmal erhöhen muss – von einer halben auf eine ganze Dosis täglich. Im Februar konnte ich die Dosis wieder reduzieren. Jetzt ist es März, sonnig, warm, und ich kann anfangen, die Tabletten und die Lampe wieder auszuschleichen.

Ich habe meinen ersten Winter mit Winterdepressionstherapie geschafft.

Und ich bin so dankbar. Es hätte gut passieren können, dass ich auf das Medikament nicht gut anspringe oder dass ich Nebenwirkungen bekomme, die nicht tragbar sind. Aber nein – selbst auf die halbe Dosis bin ich so gut angesprungen, dass sie für den größten Teil des Winters gereicht hat. Meine einzige merkliche Nebenwirkung war, dass mir leichter übel wurde. Busse und Aufzüge wurden für mich Tabu. Zum Glück lassen sich diese Dinge in meinem Alltag leicht vermeiden. Ansonsten – nichts. Keine Appetitlosigkeit, kein Verlust der Libido, keine Kopfschmerzen.

Winter ist machbar. Das ist mein Ergebnis. Auch mit Lampe und Medikamenten fühlt er sich nicht so leicht an wie der Rest des Jahres, aber das ist okay. Es ist okay, wenn Winter schwermütiger und drückender ist. Es ist okay, wenn ich im Winter weniger schaffe und mich mehr verkrieche. Es ist okay, weil ich trotzdem noch aus dem Bett komme, weil ich die Lust zu leben nicht verliere, weil ich alles wichtige trotzdem noch machen kann, weil ich die Freude an anderen Menschen behalte, weil ich immer noch lebe statt nur zu überleben.

Und das ist gut. Das ist sehr gut zu wissen. Dieses Jahr brauche ich keine Angst mehr vor dem Winter zu haben. Ich weiß, was auf mich zukommt, und ich weiß, wie ich es händeln kann.

Danke, Jesus, dass du einen Weg für mich gemacht hast.

Und dann ist etwas passiert.

Es sind die besonderen Dinge, die es so schwer machen.

Sie hatten sich darauf vorbereitet, eins zu werden. Ein Ring an ihrem Finger, ein Datum im Kalender, die Karten verteilt. Sie sind das Paar, das alles besonders macht. Ihre Urlaube, der Antrag, die Feier. Sie sind das Paar, von dem man erzählt, weil sie Geschichten schreiben. Weil sie witzig sind und besonders.

Und dann ist etwas passiert. Es ist schwierig zu sagen, was eigentlich. Wenn man sie fragt, können sie lange reden und sind doch sprachlos. Haben tausend Gedanken und Gründe, aber keine Antworten. Manchmal ist es etwas Kleines, und dann sieht man das Fremde im anderen. Das Fremde, das schon die ganze Zeit da war, aber das man nicht gut erkennen konnte. Das Fremde, das einen zurückweichen lässt. Wer bist du? Bist du derselbe? Habe ich mich in dir getäuscht? Manchmal, da ist es zu schwer, sich diesem neuen Teil des anderen vorzustellen, sich mit ihm anzufreunden, es als Teil des anderen anzunehmen, als Teil des eigenen Lebens. Manchmal ist es zu schwer, es zu erfassen. Manchmal fühlt es sich zu sehr nach Täuschung und Lüge an.

Und dann ist es das Besondere, das einem nachgeht und einen verfolgt. Sein ganz besonderer Antrag – hat er denn nichts bedeutet? All diese besonderen Pläne – was ist damit passiert? War es nicht gerade das Besondere, das ihnen so eine Sicherheit gegeben hat, dass es das Richtige ist? Wie könnten so schöne Geschichten lügen? Die Art von Geschichten, über die doch alle staunen und die alle begehren?

Und doch ist es jetzt vorbei. Er fühlt sich, als wäre er aus einem fahrenden, sicheren, warmen Zug gefallen, und jetzt liegt er in der eingeschneiten Einöde, frierend und orientierungslos, unsicher, ob das Ziel, zu dem er ursprünglich wollte, überhaupt noch existiert. Er atmet Schnee ein, der Brustkorb wie zugeschnürt. Warum ist er jetzt allein? Wie ist es möglich, sich so allein zu fühlen?

Das braucht jetzt Zeit. Das braucht jetzt richtig viel Zeit und Energie, all diese Emotionen zu fühlen und all diese Gedanken zu denken und all diese Schritte zu gehen, bis es irgendwann, irgendwann wieder okay ist.

Und dann irgendwann, wenn es schon eine Zeit lang wieder okay ist, wenn er einen neuen Weg gefunden hat, wenn da neue Ziele und neue Menschen sind, dann irgendwann macht es vielleicht Sinn. Aber auch, wenn nicht, ist es dann Vergangenheit.

Ist es nicht manchmal tröstlich, wie diese Gegenwart bald Vergangenheit sein wird?

Nicht das Opfer

Vor drei Jahren besuchte mich eine Freundin aus einem fernen Land. Sie hatte lange auf diese Reise gespart und staunte über den ganzen Luxus Deutschlands. Beim Abschied mogelte sie mir unbemerkt 100€ unter – sowohl für mich als auch für sie damals eine riesige Summe Geld. Ich hatte keine Möglichkeit, es ihr zurückzugeben. Ich habe mich furchtbar gefühlt. Ich wollte dieses Geld nicht. Ich brauchte es ja auch nicht. Sie dagegen hätte gut Verwendung dafür gehabt. Sie musste so lang für 100€ arbeiten, viel länger als irgendjemand in Deutschland. Das Geschenk war einfach zu groß.

Als ich mich über diese Situation lang und breit bei meiner Tante beschwerte und sie irgendwann genug hatte, sagte sie zu mir: „Du lässt dich gerade zum Opfer machen. Deine Freundin wollte, dass du das Geld hast. Für sie ist die Welt in Ordnung. Dein einziges Problem ist, dass du mit ihrer Entscheidung über ihr eigenes Geld nicht einverstanden bist.“ Damals hat mich diese Aussage sehr wütend gemacht. Heute rettet sie mir so manchen Tag.

Ich lasse mich nicht mehr zum Opfer der Entscheidungen anderer machen, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Natürlich hat das Grenzen. Aber wenn mir heute jemand ein zu großes Geschenk geben will, dann nehme ich es einfach an. Offensichtlich ist diese Person mit ihrer Entscheidung glücklich. Warum sollte sie mit ihrer Entscheidung, was sie weggibt, Macht über meinen inneren Frieden haben?

Als ein betrunkener Freund eine absurde Menge Hautcreme kaufte und mir davon etwas aufdrängte, um sie loszuwerden, schmiss ich sie zu Hause weg. Ich mag diese Creme überhaupt nicht. Warum sollte er in einem betrunkenen Moment darüber entscheiden dürfen, ob ich meine Lieblingscreme verwende oder nicht?

Wenn mir die Verwandte sagt, wie traurig sie es findet, dass ich nicht mit zum Familientreffen in das stets laute, stickige Restaurant komme, das sie so liebt und mir immer nur Bauchschmerzen macht, dann akzeptiere ich ihre Traurigkeit und komme das nächste Mal mit einem Topf Gulasch zu ihr nach Hause. Warum sollten ihre Gefühle entscheiden dürfen, ob ich hingehe und Bauchschmerzen bekomme? Und warum sollten ihre Restaurantvorlieben entscheiden dürfen, wie häufig ich sie sehe?

Und als die großen Diskussionen aufkamen, ob es in diesem Land wirklich mit rechten Dingen zugeht, fragte ich mich, was mir wirklich wichtig ist. Es ist mir wichtig, hier ein Licht zu sein – für meinen Mann, meine Freunde, meine Familie. Es ist mir wichtig, auf meine Gesundheit zu achten, psychisch und physisch. Und es ist mir wichtig, in der Uni voran zu kommen. Ich entschied mich, dass keine Diskussion mit keiner Person, die ich kenne, auf Kosten dieser Dinge gehen wird. Warum sollten die Meinungen anderer oder die großen, komplizierten Fragen mir etwas von der Zeit, Aufmerksamkeit und Energie für die wichtigen Dinge nehmen dürfen? Sie dürfen es nur, wenn ich mich zum Opfer machen lasse und nicht Nein sage.

Aber ich sage Nein. Ich bin nicht das Opfer. Ich weiß, was ich will. Ich treffe die Entscheidungen selbst.

„Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht finde ich dadurch mehr Gelassenheit“, schrieb mir heute eine Freundin, als es um dieses Thema ging. Erst da ist es mir aufgefallen: Wie sehr ich dieses „Nicht das Opfer“ inzwischen verinnerlicht habe. Und wie viel Gelassenheit es mir gebracht hat. Erst da ist mir aufgefallen, dass diese Aussage meiner Tante, die mich zunächst so wütend gemacht hat, jetzt so viel Frieden für mich bedeutet.

Meiner Tante kann ich das leider nicht mehr erzählen. Deswegen erzähle ich es euch. Vielleicht kann ja jemand diese Worte gebrauchen.

Kontraste und der Frühling

Es ist, als würden Wärme und Licht meine Haut durchdringen, mich auffüllen und mich wieder lebendiger machen. Es ist Frühling, jeder kann es fühlen. Die Dunkelheit und die Kälte sind vorbei. Es sind so viele Farben, Düfte und Geräusche, so eine Fülle. In mir ist wieder mehr Tatendrang, mehr Freude.

Und gleichzeitig ist da ein Kontrast. Ich wohne da, wo ich nie hinwollte: In einem engen Teil einer Stadt. Zwar wird der Baum vor unserem Haus langsam grün und verdeckt viele Fenster und Dächer, aber dennoch fühle ich mich nie so sehr in meiner Wohnung eingesperrt wie im Frühling. Ich träume davon und sehne mich so sehr danach: Eines Tages werde ich eine Terrasse oder einen Vorgarten haben, eine ebenerdige Tür nach draußen.

Ich bemerke gerade auch zum ersten Mal, wie viele Menschen hier eigentlich wohnen. Vor wenigen Monaten noch sind hier nur wenige Menschen auf meinen üblichen Spazierstrecken unterwegs gewesen. In den Jahren, die ich hier wohne, waren es eigentlich noch nie wirklich viele Menschen. Aber jetzt, vielleicht wegen des Wetters, aber sicherlich wegen der mangelnden Alternativen, sind die Menschen draußen und gehen spazieren, fahren Inliner, Fahrrad, oder, hier in der Gegend irgendwie beliebt – e-Roller. Die Wege sind voll, und auch, wenn ich mich für die Menschen freue, die endlich den Weg nach draußen gefunden haben – ich mag es nicht. Ich will wieder meine Ruhe haben, mein klein wenig Ruhe in dieser Stadt.

Neben der neuen Kraft, die kommt, der neuen Lebendigkeit, fühle ich mich gleichzeitig auch erschöpft. Das ist ein Überbleibsel des Winters, das ist die Uni mit ihren vielen Aufgaben parallel, das ist die Veränderung in meinem Leben, die mir noch immer in den Knochen steckt. Bald beginnt wieder etwas Neues: das siebte Jahr. Das siebte Jahr ist das ruhige Jahr, in dem ich ankommen und ausruhen darf. In dem ich den Anforderungen der Uni entfliehe. In dem ich loslasse. Nur noch fünf Monate. Bis es soweit ist, versuche durchzuhalten und im Jetzt zu leben.

Es sind die Kontraste. Die Hoffnung und die Trauer, die Freude und die Sehnsucht, die Kraft und die Erschöpfung. Ich lebe alles, fühle alles, bin alles.

Ein bester Freund

Ein Text aus November 2018.

Ich hatte einmal einen besten Freund. Er war der erste Junge, der mir so richtig nahe stand. Er war ein wenig älter als ich, aber das macht in der Pubertät nichts aus, weil Mädchen sich da ja ein bisschen früher entwickeln. Wir haben uns gegenseitig die Mädchen- und die Jungenwelt erklärt und uns geprägt, was den Umgang mit dem anderen Geschlecht anging. Wir waren Vertraute.

Wenn es mir schlecht ging, bin ich zu ihm gegangen. Er konnte genau das, was ich damals am meisten brauchte: Der Fels in der Brandung sein, eine unerschütterliche Zuversicht vermitteln und bedingungslos loyal sein. Damals dachte ich, alle Männer könnten das. Später habe ich schmerzhaft gelernt, dass ich damit gravierend falsch liege. Mein bester Freund war da etwas ganz besonderes.

Wir waren zusammen unterwegs. Sind viele Schritte gleichzeitig gegangen und haben uns darüber ausgetauscht. Ich bin gerne vorgerannt, mit dem Kopf durch die Wand. Er kam dann irgendwann in langsamem, gleichmäßigen Tempo hinterher und hat mich aufgesammelt, wenn ich erschöpft irgendwo liegen geblieben bin. Und dann haben wir es zusammen zu Ende gebracht.

Dieser beste Freund war mein Bruder.

Alles veränderte sich, als eine andere Frau in seinem Leben auftauchte. Eine andere beste Freundin, und es wurde seine feste Freundin und seine Verlobte und seine Frau. Niemand hat mich darauf vorbereitet, was das für mich bedeuten würde, wenn das einmal passiert. Ich hatte keinen Plan, kein Konzept für diese Situation.

Seine Loyalität und seine Aufmerksamkeit galt nun einer anderen. Jetzt fragte er nicht mehr nach mir, sondern nach ihr. Ich kam nicht mehr vor. Ich versuchte, irgendetwas aufrecht zu erhalten, weiterhin jemand für ihn zu sein, aber ich schien vor eine Wand zu laufen. Ich verlor meinen besten Freund.

Das machte mich wütend und bitter und kostete mich zu viel Schlaf. Wenn man darüber nachdenkt, wie gemein und scheiße eine Situation ist, dann kann man nicht gut schlafen. Sie nahm ich in dem ganzen Prozess gar nicht so wirklich wahr. Ich sah nur, wie sich mein Bruder veränderte und wie ich kaum noch Teil von seinem Leben war.

Aber hier ist das Ding: Er ist mein Bruder. Viel kann sich ändern im Leben, aber nicht, wer deine Geschwister sind. Nicht deine Vergangenheit. Wir sind zusammen aufgewachsen und wir sind Vertraute gewesen. Das ist etwas, das uns immer verbinden wird. Mir bedeutet das was.

Und ich weiß, ihm bedeutet das auch etwas.

Und sie bedeutet ihm etwas, bedeutet ihm unendlich viel, und ich beginne mehr wahrzunehmen, wer diese neue Frau an seiner Seite ist. Ich sehe an manchen Ecken, wie sehr sie mir ähnelt. Dieser Fels und diese Loyalität, das, was ich so brauchte, und was er mit mir eingeübt hat, ist genau das, was sie braucht. Ihr Humor ist ein wenig anders, aber wenn sie sich aufregt, klingt sie wie ich. Und wenn mein Bruder sie erdet, klingt er so, wie er immer mit mir geredet hat.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich dadurch vielleicht ein kleiner Teil von dem bin, woraus ihre Ehe besteht. Vielleicht in dem Sinne, dass ich ein wenig mitgeprägt habe, wer er nun als Ehemann ist. Ich stelle mir vor, dass da irgendwo ein Punkt ist, an dem ich wichtig bin.

So lange habe ich darum gekämpft, irgendwie möglichst wichtig zu bleiben. Ich war so traurig, dass diese Freundschaft zu meinem Bruder so viel Nähe, Zuverlässigkeit und Vertrautheit verloren hat. Dass er mich nicht mehr brauchte und nicht mehr auf mich aufpasste wie früher.

Aber immer mehr habe ich gelernt, dass ich für immer seine Schwester bleiben werde. In seinem Herz wird ein besonderer Platz für mich bleiben. Auch wenn dieser Platz sich verändert. Auch wenn er kleiner geworden ist. Der Platz ist da. Er ist immer noch mein Bruder.

Ein Bruder, der nun ein Ehemann ist. Irgendwann kommt der nächste Schritt und aus Ehemann wird Familienvater. Ich will ihn dabei anfeuern. Ihn und seine Frau, die nun seine beste Freundin sein darf. Da ist nun ein Ihr, denn meistens habe ich nun mit ihnen beiden zu tun. Sie gehören zusammen. Und da ist ein Wir, wo wir drei die Welt dann doch erstaunlich ähnlich sehen.

Ein Wir und ein Ihr und ein Ich. Ein Ich.

Ich habe einen Bruder, und er ist noch immer mein Freund.

Der Mensch hinter der Krankheit

Wenn Freunde oder Verwandte psychisch krank werden, entstehen Fragen. Viele Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Und obwohl ich mit dieser Situation schon viele, viele Jahre Erfahrung habe, begleiten mich diese Fragen immer noch.

Zum Beispiel frage ich mich oft: Bist du das? Oder ist das die Krankheit? Wenn sich als Teil deiner Krankheit deine Gedanken verändern, wie viel von dem, was du sagst, bist du, und wie viel ist Krankheit? Und wenn ich dich kaum noch wiedererkenne – bist du da noch? Irgendwo hinter dieser ganzen Störung? Bist du da? Kannst du mich sehen?

Ich frage: Kannst du nicht oder willst du nicht? Könntest du, wenn du wolltest? Kannst du überhaupt wollen? – Es ist so schwer nachzuvollziehen, wie die einfachsten Dinge nicht mehr funktionieren. Wie ist es möglich, dass du das nicht hinkriegst? Natürlich bist du krank und stellst dich nicht einfach nur an. Aber auch ein Depressiver oder Ängstlicher kann sich anstellen. Wann ist es was? Wann kannst du wirklich nicht?

Ich frage mich: Verstehe ich dich oder verstehe ich dich nicht? Manchmal erzählst du von Dingen, die kommen mir bekannt vor. Und ziehst dann Schlussfolgerungen, die ich nicht verstehe. Meintest du dann auch dasselbe wie ich? Wie viel von dem, was du erlebst, kann ich nachvollziehen? Wo ist die Grenze?

Besonders häufig frage ich mich: Wie nah soll ich dich an mich heran lassen? Wie viel Nähe kann und will ich ertragen? Wie viel Distanz kann ich vertreten? Ist es in Ordnung, deine Krankheit schrecklich anstrengend zu finden und nur zu ertragen, weil ich den Menschen lieb habe, der irgendwo in dieser Krankheit versteckt ist?

Und auch: Darf ich sagen, was ich denke? Darf ich dir sagen, dass du gerade Dinge sagst, die für mich offensichtlich Quatsch sind? Darf ich es sagen, wenn ich denke, dass dir etwas helfen würde? Darf ich von meinen Problemen erzählen? Darf ich ehrlich darüber sein, wie anstengend deine Krankheit für mich ist? Darf ich einfach – ich sein? Oder sollte ich mich lieber zurückhalten?

Ich kann sie nicht ein für alle Mal beantworten, diese Fragen. Ich muss mich immer wieder neu mit ihnen beschäftigen. Mit jeder Situation.

Ich glaube, was ich eigentlich sagen will – und das geht raus an alle, die auch jemanden lieb haben, der psychisch krank ist – ich glaube zutiefst, dass es in Ordnung ist, diese Fragen zu stellen. Du bist nicht allein. Mir geht es genauso, und mit uns beiden noch so vielen anderen.

Was passiert ist

… seit dieser Blog ins Koma gefallen ist.

  1. Ich habe geheiratet. Einen gutaussehenden, liebevollen Nerd und Träumer, der mir heute Nacht um fünf den Rücken massiert hat, weil der so weh tat. Der Mann ist kreativ und witzig und genau das, was ich will. (Ihr habt ja schon von ihm gelesen.)
  2. Dieser Mann ist auch bei mir eingezogen. Umziehen finde ich furchtbar anstrengend, selbst wenn es nur Umziehen light ist: Die drei Kisten meines Minimalistenmannes in meine Wohnung integrieren, alles ein wenig umstellen und ein Bett bauen. Es ist wunderbar, dass er jetzt hier wohnt, aber auch eine große Umstellung, an der ich noch arbeite.
  3. Ich bin in mein Bachelorarbeitsprojekt gestartet. Ich studiere Psychologie, und bei uns an der Uni ist man zwei Semester mit seiner Bachelorarbeit beschäftigt. Für die letzten Wochen hieß das viel Literatur lesen, ein Experiment vorbereiten, einige Testläufe starten und einen Vortrag über all das halten.
  4. Ich war krank. Nichts schlimmes, nur so ein Erkältungs-Grippe-Infekt-Irgendwas. Aber dafür heftig und zweimal hintereinander. Im Abstand von zwei Wochen. Und jedes Mal so zwei bis drei Wochen. Eigentlich war ich von den letzten acht Wochen fünf oder sechs krank. Man, ich will endlich wieder Sport machen.
  5. Einmal mehr war ich auf der Beerdigung eines Menschen, der sich lange vor der Sollbruchstelle des Lebendigseins verabschieden musste. Mein Cousin war nur wenige Jahre älter als ich. Es ist eine Süße in der Traurigkeit: Wie unglaublich viele Menschen ihn geliebt haben, wie gelassen und friedlich er seinem irdischen Ende entgegen gegangen ist und wie viel Trost Gott seiner Familie jetzt schon geschenkt hat. Trotzdem macht es mich traurig.

Viel. Viel ist passiert.

So, das waren jetzt ungewohnt viele Informationen aus meinem echten Leben für diesen Blog. Ich hatte gerade das Bedürfnis, hier ein Update zu schaffen. Keine Sorge, wir kehren umgehend wieder zu der gewohnten Verwirrung zurück: Meint sie das ernst oder nicht? Ist das aus ihrem echten Leben oder ausgedacht? Wer ist sie überhaupt?

To be continued.