Ahnungslos klickte ich heute in einem nicht näher definierten sozialen Netzwerk herum, als ich plötzlich frontal angegriffen wurde. Ein Satz zu einem Selfie, so kitschig und möchte-gern-tiefsinnig wie es nur eben geht, und zusätzlich noch von Grund auf falsch.
Es sind die Starken im Leben, die unter Tränen lachen, ihr eigenes Leben verbergen, um andere glücklich zu machen.
Nein, das sind die Dummen.
- Du wirst einen anderen niemals wirklich glücklich machen können und es wird auch nie ein anderer dich glücklich machen können. Ich stelle mir manchmal vor, dass Menschen so vielschichtig sind wie Zwiebeln, und dass verschiedene Gefühle und Verletzungen unterschiedlich tief gehen und unterschiedlich viele Schalen betreffen. Das Glück, welches du in anderen erzeugen kannst, betrifft nur auf die äußeren Schichten. Du wirst nie einen Menschen so glücklich machen, dass ihn das durchdringt.
- Du wirst nicht alle gleichzeitig glücklich machen können. Selbst wenn du die einen soweit wie möglich glücklich machst, gefällst du den anderen nicht.
- Du wirst daran kaputt gehen. Wenn du andere glücklich machen willst, rennst du dein Leben lang deren Erwartungen hinterher, wirst leer, ausgelaugt und bitter. Außerdem verlierst du dein Rückgrat. (Oder du bildest nie eins.)
- Du kannst nicht „dein Leben verbergen“ und „andere glücklich machen“ gleichzeitig. Wenn du vom Hinter-Erwartungen-herlaufen leer, ausgelaugt und bitter wirst, kannst du andere nicht mehr glücklich machen, auch wenn du es „verbirgst“ und „unter Tränen lachst“.
Nur wenn du selbst mit Frieden gefüllt bist, kannst du Frieden weitergeben.
Nur wenn du selbst mit Freude gefüllt wirst, kannst du Freude weitergeben.
Nur wenn du selbst mit Glück gefüllt bist, kannst du Glück weitergeben.
Was du nicht hast, kannst du nicht geben.
Klingt logisch, oder? - Was ist daran stark, sein Leben zu verbergen und eine lachende Maske aufzusetzen? Viel stärker ist es, sie abzunehmen und sich dem zu stellen, wer man wirklich gerade ist, weder sich selbst noch anderen etwas vorzuspielen, sich zu öffnen, verletzlich zu machen, bewusst Schwäche und Schmerz zu empfinden, und dann vielleicht um Hilfe zu fragen, vielleicht daran weiterarbeiten, und so weiter. Masken sind ein Zeichen von Schwäche, sei es emotional, charakterlich oder sonstwie.
- Ich höre aus diesem Satz heraus, das diejenige Person andere nicht mit ihrem Leben belasten will. Korrigiert mich, wenn ich falsch liege. Mal angenommen, es stimmt: Das funktioniert nicht. Jedenfalls nicht bei sensiblen Menschen wie beispielsweise mir. Ich spüre so oder so, dass da etwas ist, und mich macht es glücklicher, wenn derjenige sich öffnet und mir alles erzählt und meine Hilfe (und wenn es nur Zuhören ist) annimmt als wenn er sich versteckt, um mir nicht zur Last zu fallen. Das (also das nicht zur Last fallen wollen) ist für mich viel eher eine Last. Es erzeugt im schlimmsten Falle Befremdung, Oberflächlichkeit und sogar Angst. Und ich denke, da geht es nicht nur mir so.
- Außerdem klingt für mich der Spruch so, als würde die Person die anderen über sich selbst stellen. Das ist etwas, bei dem man sehr vorsichtig sein muss. Es klingt total vorbildlich, ich weiß. Aber: Bevor du in deiner Identität und deinem Charakter nicht fest bist und bevor du deine emotionalen Grenzen nicht kennst und einhalten kannst, solltest du das nicht tun. Versuche, die anderen mit dir auf eine Stufe zu stellen, und lasse dich bitte bitte nicht von ihnen bestimmen, und in gar keinem Fall so, wie in dem Zitat beschrieben. Dich dazu bringen zu lassen, aufgrund von dem Glück anderer dein eigenes Leben zu verbergen, ist schrecklich.
Um dem Spruch wenigstens ein bisschen seiner Würde zurückzugeben:
Ich finde den Ansatz gut, trotz Schmerz zu lachen.
Und es ist ehrenwert, nicht immer alles um sich drehen zu lassen, sondern einen großen Teil seiner Zeit für andere da zu sein, was in diesem Satz zumindest angedeutet wird.
Merke:
Nicht alles, was tiefsinnig klingt, ist auch tiefsinnig.
Besondere Vorsicht ist bei Kitsch geboten.
Und:
Du kannst keine andere Menschen glücklich machen.
Dein Leben Verbergen erzeugt zudem gar kein Glück.
So. Eine weitere Etappe geschafft im Kampf gegen blöde, pseudo-tiefsinnige Sprüche.
Die Vorgänger:
Never give up – Selbstlob stinkt – Sag deiner wütenden Freundin, dass sie süß aussieht
Du spionierst mir hintennach. :P
Gerade heute diskutierte ich mit jemandem über so ein achtlos weiterverbreitetes Bildchen, also wohl etwas ähnliches wie das, was du hier ansprichst.
„Freunde lesen diesen Text. Wahre Freunde werden ihn weiterverbreiten.“
Dann meinte ich: „Freunde helfen dir, Gerümpel zu entsorgen. Wahre Freunde helfen dir, eine Leiche zu entsorgen.“ – und es begann eine tolle Diskussion über den Sinn und Unsinn solcher Textchen.
Oder:
„In meinem Leben gibts immer wieder einige Veränderungen. Wenn du nichts mehr von mir hörst, warst du eine davon.“
Da stelle ich mir wirklich die Frage, ob Lesen bloss noch eine oberflächliche Tätigkeit darstellt. Oder ob sie auch begreifen, was da gepostet wird. Und ob sie sich darüber Gedanken machen, ob sie den Hilfeschrei auch anders formulieren könnten.
Im Übrigen find ich es überwältigend, wie du diesen Spruch auseinandergerupft hast. Ich wünsche mir viel mehr Menschen, die soviel Einsicht und Nachdenklichkeit besitzen wie du.
Den Beitrag kann ich nur unterschreiben.
Liebe Sina, ich habe deinen Blog vorgestern oder so entdeckt und er fesselt mich! Gedanken, ja. Tiefsinnige. Und in vielen, vielen Punkten stimme ich dir absolut zu (bezeichne mich bspw. selber auch als hochsensibel …).
Ich habe auch einen Blog, allerdings berichte ich in dem eher von meinem Alltag an einer chinesischen Mittelschule. Abi ’13 und dann erst einmal WEG! Nunja, vielleicht hast du ja Lust, mal Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich würde mich wahnsinnig freuen.
Kennst du die Schale der Liebe von Bernhard von Clairvaux? Ich kopiere den Text hier rein und hoffe, das ist dir Recht.
Bernhard von Clairvaux: Schale der Liebe
Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.
Nadya
@ turtle:
Oder ich habe hellseherische Fähigkeiten, wer weiß … :P
Ich persönlich schätze das so ein, dass es zwischen den Leuten, die in ihrer Freizeit lesen, und den Leuten, die solche Sprüchlein weiterverbreiten, eher eine kleine als eine große Schnittmenge gibt. Und ich denke auch, dass die Sprüche oft (kommt natürlich auch auf den Inhalt an) Hilfeschreie sind. Vielleicht könnten sie es auch anders formulieren. So ist es allerdings dezenter und nicht so schwer.
@ Nadya
Heyho und willkommen auf meinem Blog! :-)
Freut mich, dass er dir gefällt! Dein Blog klingt allerdings auch spannend. Mit solchen Geschichten kann ich hier natürlich nicht aufwarten. ;-) Werde auf jeden Fall immer mal wieder reinschaun.
Ich mag den Text von Bernhard von Clairvaux. So viel Wahrheit auf die paar Worte … wie schön. Danke, dass du den Text mit mir geteilt hast.