Regen fällt auf meine Haut und läuft langsam meinen Arm hinunter. Die Ampel ist rot. Natürlich ist die Ampel rot. Immer sind Ampeln rot, außer sind sind es gerade nicht, aber dann denkt man ja auch nicht über sie nach, also sind sie praktisch immer rot, bis sie eben grün werden, aber das dauert irgendwie generell zu lange. Rote Ampeln guckt man viel länger an als grüne. In meinem Kopf sind Ampeln immer rot.
Ich stehe also an einer roten Ampel und es regnet. Das Wasser rinnt die Straße entlang. Ich habe meine Kapuze nicht aufgesetzt. Ich setze schon lange keine Kapuzen mehr wegen Regen auf. Nur noch wegen Wind. Ich mag es, wenn meine Haare vom Regen nass werden. Falls sie nass werden. Total oft werden sie einfach nur ein bisschen klamm und meine Kopfhaut bleibt trocken. So ist das mit dichten Haaren.
Wie früher als Kind strecke ich meine Hand aus und versuche, Regentropfen in meiner Hand zu sammeln. Und wie früher als Kind fallen überall viel mehr Regentropfen als da, wo meine Hand ist. Das ist wie mit der Ampel. Ampeln sind immer rot und Regen fällt nie genau in meine Hand. Bescheuert, das.
Wo Regentropfen übrigens immer hinfallen, das sind Brillen. Ich nehme meine ab und stecke sie in die Tasche. So dringend brauche ich sie dann auch wieder nicht.
Die Ampel wird grün. Ampeln sind immer rot, und jetzt wird sie grün. Aber ich gehe nicht rüber. Ich habe mich entschieden, dass ich doch gar nicht über die Straße will. Eigentlich will ich nirgendwo hin. Eine Frau mit Hund schaut mich merkwürdig an, als ich nach meiner Wartezeit an der Ampel statt über die Straße einfach wieder zurück gehe.
Ich will wieder nach Hause. Es gibt keine Zukunft. Nie gab es Zukunft. Zukunft war immer nur Schule, und daran denkt man nicht. Ein kleines bisschen Zukunft waren auch die kleinen Inseln namens Ferien. Die waren immer ewig weit weg, selbst wenn sie nah waren. Wenn sie kamen, war es immer toll, aber irgendwie fühlten sie sich immer auch ein bisschen an wie Seifenblasen. Ganz schnell waren sie so weg, als hätte es sie nie gegeben. Es bleiben nur Erinnerungen – Zukunft gab es nie. Nur Schule. Und jetzt erzählt mir irgendjemand, Schule wäre jetzt fertig. Das macht irgendwie Sinn, denn ich war zwölf Jahre da und seit ein paar Wochen nicht mehr, also muss sie wohl fertig sein. Aber dass jetzt etwas anderes kommen soll, das verstehe ich nicht. Wie kann es denn noch mehr Welt geben? Ampeln sind immer rot, Regentropfen fallen immer auf meine Brille und nie auf meine Hand, und es gibt immer nur Schule.
Ich will wieder nach Hause. Ich will nicht zur Schule, nicht weiter, ich will einfach nur zu Hause sein. Ich will gar nicht woanders hin. Im Sommer bleibt die Zeit eh stehen. Das ist so, weil sie ohne Schule ja schlecht weiterlaufen kann, oder? Eigentlich schwänze ich doch die ganze Zeit, oder?
Ich habe Schule immer gehasst. Man sagt, wenn man erst einmal aus der Schule raus ist, vermisst man sie. Bei mir ist das nicht so. Es gibt wenig auf der Welt, das mich dazu bringen könnte, zurück in die Schule zu gehen, selbst wenn es ginge. Nur irgendwie – irgendwie kenne ich nichts anderes. Ich kenne nur Schule. Zwölf Jahre lang jeden Tag dort gewesen, ein vertrautes Leid, ein bekanntes Ertragen, immer dasselbe, immer der Blick auf das dann, dann wird es besser. Eine Wüste, die mein zu Hause geworden ist. Wüste kenne ich. Mit Wüste kann ich umgehen. Wüste war doch immer schon. Wüste ist mein Leben. In der Wüste hat man Durst, man hat jeden Moment ein bisschen das Gefühl von Sterben, das ist so. Es geht nie weg, aber irgendwann ist es vertraut. Wüste.
Und jetzt stehe ich hier. Die Ampel ist grün. Das „dann“ von früher ist gekommen. Es gibt eine Zukunft.
Aber ich verstehe nicht. Es macht keinen Sinn. Ich weiß nicht, wie man das denkt, was nicht Wüste ist. Ich weiß nicht, wie man das lebt. Ich will nach Hause.
Wo ist zu Hause?
Ich kann da gar nicht mehr als „richtig schön“ zu sagen. :)
Ich kann mich da meiner Vorschreiberin nur anschließen – ein wunderbarer Text!!!
Tja – wer bringt einem bei was Leben heißt? Selbstverwirklichung? Wie gebe ich meinem Leben einen Sinn? Wer entdeckt in mir das was mich ausmacht, wie ich meine Talente lebe? Außer ich merke es hoffentlich irgendwann später selbst?
Ich muss dir leider recht geben, unser Schulsystem ist dazu nur bedingt in der Lage – da muss man schon auf sehr gute Lehrer treffen, die das zu formulieren wissen. Die Gesellschaft ist zu automatisiert und zu festgefahren, als dass sie auf Besonderheiten von jedem einzelnen aufmerksam machen könnte – insbesondere solche Besonderheiten, die man nicht auf den ersten Blick sieht. Jeder Mensch hat Talente, Liebenswürdigkeiten und Wert und ist besonders. Aber unser jetziges System würdigt und spiegelt dies in keinem Maße…
Ich wünsche dir alles Gute für deine Zukunft – wohin auch immer du gehst und welche grüne Ampeln du überschreitest und welche nicht. (in der Schule lernt man übrigens nicht, in Ausnahmefällen auch mal über rote Ampeln zu schreiten – aber nicht weitersagen…)
Liebe Grüße,
Julia
Vielen, vielen Dank, ihr beiden! :-)
@Julia: Oh, ich bin gespannt auf die roten Ampeln, über die ich gehen werde! Und ich teile deine Gedanken.
Der Text hat mir sehr gut gefallen, ich kann deine Situation sehr gut nachfühlen.
Weil mir dein Blog so gut gefällt, habe ich dich für den „Liebster Blog“ Award nominiert :)
Schau doch mal hier vorbei, da steht alles näher beschrieben, LG
https://paulinena.wordpress.com/2015/06/06/liebster-blog-award/