Tino

Der erste Junge, bei dem mir in meinem Leben die Idee gekommen ist, ihn zu küssen, hieß Tino. Wir saßen in der sechsten Klasse zusammen nebeneinander in der letzten Reihe. Wir wurden zusammengelost. Unsere Lehrerin loste immer. Und immer haben das alle gehasst. Und trotzdem entstanden meine besten Hasslieben genau aus diesem Losen.

Tino war unverschämt. Ich landete immer neben unverschämten Jungs. Ich glaube, weil meine Lehrerin in Wahrheit gar nicht wirklich loste, sondern sich genau überlegte, wie sie uns platzierte. Und weil sie wusste, ich kann es mit unverschämten Jungs aufnehmen.

Mit Tino konnte ich es wirklich aufnehmen. Ich hatte meinen Killer. Meinen Tintenkiller. Eigentlich habe ich mit ihm aber viel weniger Tinte als Tino gekillt. Ich hatte ihn immer griffbereit, und wurde Tino mir zu anstrengend, zu unangenehm, zu fies, dann rammte ich ihm den Stift in den Oberarm. Er hat dann gelacht. Vielleicht legte er es auch immer ein bisschen darauf an. Und er meinte, ich würde ganz schön hart zuhauen. Das tue richtig weh. Selber schuld, war meine Antwort.

Ein paar Momente gab es, da kamen wir wirklich aneinander. So richtig ernst, meine ich. Das war immer, wenn er mir zu stark wurde und ich mir nicht mehr zu helfen wusste. Wenn ich es mit ihm nicht mehr aufnehmen konnte. Wenn er mich fertig machte und mir die Antworten fehlten, aber klein beigeben und ertragen auch nicht ging. Oft geschah das nicht, und ich glaube, eigentlich wollte Tino das auch nie. Ab und zu ist es eben trotzdem passiert. Das waren anstrengende Tage.

Die guten Tage waren die, wo wir schulstundenlang uns die besten Verletzungsgeschichten unserer realen oder zum Zwecke des Gespräches ausgedachten Bekannten erzählt haben, wo wir über Computerspiele und Fernsehshows sprachen, von denen ich in der Regel nicht zugeben wollte, dass ich sie nicht wirklich kannte, oder in denen wir uns Geschichten von früher und von unseren Familien erzählt haben. Er empfahl mir Filme, die ich niemals schaute, und ich fütterte ihn ein halbes Jahr lang in jedem unserer Klassenzimmer-Fächer mit richtigen Antworten und Hausaufgaben durch.

Und zwischendurch, zwischen all den ausgedachten Geschichten, den riskanten Gesprächen über Themen, von denen ich keine Ahnung hatte, zwischen dem gegenseitig Aufziehen und Killer herausholen, kam ich einmal und immer wieder auf die Idee, ihn zu küssen.

Ich war erst zehn und das alles mir eigentlich viel zu gruselig. Hätte ich gekonnt, hätte ich diese Gedanken einfach ausgemacht. Abgestellt. Wäre einfach Kind geblieben. Aber so einfach ist das nicht. Ich habe mich immer weggedreht und mich besonders energisch auf etwas anderes konzentriert – falls wir gerade kein Thema hatten, das interessant genug war, sogar auf den Unterricht.

Immer hatte ich Angst, dass es mir aus Versehen passieren könnte, dass ich ihn wirklich küsste. Einmal nicht nachgedacht, nicht aufgepasst – zack. Es ist niemals passiert. Zum Glück ist es niemals passiert.

Meine Geschichte mit Tino endete damit, dass er die Schule wechselte, weil er das Gymnasium einfach nicht packen wollte. Der Blödelkopf, den ich gezwungenermaßen liebgewonnen habe, war nach diesem halben Jahr Sitzpartnerschaft weg und begann, wie ich über Klassenkameraden erfuhr, ein paar Monate später damit, mit viel älteren Freunden herumzuhängen und zu rauchen und zu trinken.

Das schüttelte mich innerlich. Und innerlich schüttelte ich das alles ab – dass ich ihn eigentlich mochte und er so liebenswert gewesen war, wenn wir zusammen in der letzten Reihe gesessen hatten. Dass ich ihn immer küssen wollte. Und dass er jetzt weg war und für mich nur unverständlichen, dummen Unsinn anstellte. Ich schüttelte Tino einfach von mir ab.

Wer jetzt denkt, es gibt ein Kapitel zwei dieser Geschichte, ein Wiedersehen, eine Veränderung, eine Bedeutung, die diese Geschichte hinterlassen hat, der liegt wohl falsch. Es war nicht mehr als das. Er war nicht mehr als das. Nicht mehr als der erste Junge, den ich küssen wollte, und der Junge, den ich so gründlich abschüttelte.

Nicht mehr als der Junge, den ich heute mal bei Facebook eingegeben habe und dessen Badezimmerspiegelposerselfie-Profilbild ich gerade zwei Minuten entgeistert angestarrt habe.

Die Erkenntnis, dass ich keine Ahnung habe, wer er eigentlich ist.

Wenn mit „teacher!“ ich gemeint bin

„Teacher, teacher, here!“
Ich gehe hinüber zu dem Jungen.
„Teacher, I write this line, and when I finish next line – okay?“
Aufmerksamkeit. Gesehen werden. Das braucht er nach all dem Schmerz der Flucht, des neuen Landes.
Ich lache. „Yes, okay!“

„Teacher, teacher. I can write beautiful. I can also write fast. Now I write fast. When teacher not like I rubb. Then write beautiful, okay?“ – „Yes, yes, okay.“ Niemand mit einer Handschrift wie meiner kann von einem Kind erwarten, eine Seite neu zu schreiben, weil sie nicht schön genug aussieht.

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Ein Holzverschlag mit Wellblechdach, kein fließend Wasser, Hühner. Willkommen bei eben diesem Jungen zu Hause. Die Mama hat Früchte und Sojamilch gekauft – Geld, das sie auch hätte brauchen können, um die Mägen ihrer Kinder zu füllen. Der Junge erzählt mir ein bisschen aus seiner Vergangenheit und wie sehr er sich um die Zukunft Sorgen macht – berechtigte Sorgen. Ein Ausweg aus seiner Situation ist kaum in Sicht. Traurige, niedergeschlagene Augen, und ich bekomme eine Ahnung davon, dass da eine Last, ein Schmerz ist, dessen Ausmaß ich nicht verstehen kann. Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich jetzt doch die naive, reiche Weltverbesser-Weiße bin, die ich nie sein wollte. Er zeigt mir seinen Affen. Der Affe heißt Michael und beißt nur ihn nicht. Zum Abschied verspricht er mir, weiter zur Schule zu kommen. Ob er dadurch wirklich ein Chance für seine Zukunft bekommt, steht in den Sternen, aber es ist momentan wohl der einzige Ansatz.

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Ich bin wütend. Nicht, weil die Welt so ungerecht ist – den Jungen zu besuchen hat mich eher weich als wütend gemacht. Ich bin wütend, weil vor mir zwanzig Zweitklässler sitzen, die absolut nicht gehorchen wollen, und von denen anscheinend zwei Drittel kein Englisch kann – und dabei sollten sie das inzwischen. Ich bin wütend auf die Lehrerin der ersten Klasse, weil sie den Kindern weder Regeln noch Englisch beibringt, und auf die Kinder, weil sie sich keine Mühe geben.

Ich will nicht wütend sein. Ich will Wege finden. Eben erst habe ich doch das Zuhause gesehen – die Not. Es ist nicht der Fehler der Kinder. Und doch könnte ich mit ihnen gerade den Raum tapezieren. Augen zur Uhr, zur Tafel, zurück zu den Kindern. Und weiter.

Kontraste.

„Teacher, I go toilet. I finish and then I go toilet. Okay, teacher?“

Ja, Kleiner. Okay.

Der Denkerlehrling

Weil Nebenfiguren manchmal die spannendsten Charaktere sind.

Vielleicht gerade so gestreift habe ich die Welt des Denkerlehrlings. Heimlich beobachtet hingegen habe ich ihn immer, aus großem Abstand heraus. Ein Abstand, der wohl nur da war, weil sich keiner von uns beiden je bemüht hat, ihn zu überwinden. Mein Beobachten rührte nicht daher, dass er ein Junge war und ich ein Mädchen – wobei sein hübsches Gesicht durchaus ein Grund hätte sein können. Nein, vielmehr beobachtete ich ihn, weil er etwas an sich hatte, das mich faszinierte. Etwas Aufrechtes, Aufrichtiges.

Auch, wenn ich das wohl nie zugegeben hätte, suchte ich immer wieder heimlich seine Nähe, um seine Weltsicht zu belauschen. Es gab viel intellektuellere Schüler in seinem Freundeskreis. Sie waren Zyniker und Lästerer – ein Umgang mit Intelligenz, der mich immer abgeschreckt hat. Er war nicht so einer. Er knickte nicht ein vor all den schlauen Formulierungen und herablassenden Kommentaren, der er bekam, wenn er mal wieder anderer Meinung war. Das machte seine Worte für mich einmal mehr glaubwürdiger, wahrhaftiger. Ohne sich einengen zu lassen, blieb er bei dem, wer er war, was er dachte. Ich konnte das nie so gut. Meine große Klappe kannte zwar jeder, aber innerlich war ich wohl nie so standfest, wie viele erwarteten – vor allem nicht gegenüber Menschen, die ich als intelligenter als mich einstufte.

Als ich irgendwann erfuhr, dass der Denkerlehrling sang, wurde er in meinem Kopf ein Künstler. Vielleicht nicht nur ein Sänger, sondern auch ein Poet. Poet – das passte zu ihm. Es war nur eine Assoziation, aber ich blieb dabei. Irgendwohin musste das alles ja, was er mit seinen aufmerksamen, braunen Augen ständig aufzunehmen schien. Es wirkte auf mich, als würden all diese Eindrücke in seinem Kopf noch lange weiterarbeiten – ein Denker. Ich mochte, dass er sich nicht für sich, sein Singen oder seine Gedanken schämte. Ich schämte mich für alles mögliche an mir, ob es meine Hobbies oder Ansichten oder Witze waren. Er war so viel und konnte so viel, was ich auch wollte, und die Selbstverständlichkeit, mit der er das alles war und tat, zog mich an.

Manchmal musste ich auch über ihn lachen. Es kam vor, dass er auf irgendeiner kleinen, merkwürdigen Eigenheit beharrte oder eine Meinung vertrat, die mir völlig abwegig vorkam. Manchmal beschäftigte er sich mit Themen, die mir in einer Lebenszeit nicht relevant erscheinen könnten. Aber er tat all das mit so schlafwandlerischer Sicherheit und Freude am Leben, dass ich auch das an ihm nur gern haben konnte.

Die Art, wie er unserem Deutschlehrer, dem weisen, alten Denker, zuhörte, brachte mich dazu, ihn Denkerlehrling zu taufen – seine Aufmerksamkeit, sein aufrechtes Sitzen, sein überlegtes Fragen. Er bewunderte diesen Lehrer. Ich auch. Wir liebten es, wie er uns zum Denken anregte, wie er sich und uns für Literatur begeisterte und wie er uns von seiner gestandenen Weisheit weitergab. Ich liebte an seinem Unterricht außerdem, dass ich in die Gedankenwelten der anderen Schüler sehen konnte – insbesondere in die des Denkerlehrlings. Aus sicherem Abstand konnte ich beobachten.

Vielleicht habe ich nie Anstalten gemacht, ihn wirklich besser kennen zu lernen, weil ich mir so plump vorkam. Er redete nicht so viel dummes Zeug wie ich, riss seinen Mund nicht so weit auf, blieb klarer und aufrichtiger bei sich. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, dass da viel Tiefe ist. Eigentlich wollte ich diese Tiefe kennen lernen. Aber ich war mir peinlich, und auch meine Hochachtung ihm gegenüber war mir peinlich, und ich wollte ihm auf keinen Fall hinterherlaufen oder bedürftig und anhänglich wirken. Also verschwieg ich meine Gedanken, tarnte meinen Respekt als irgendetwas zwischen Gleichgültigkeit und Albernheit, vielleicht sogar Sarkasmus, und blieb bei dem Abstand.

Jetzt ist der Denkerlehrling weg, denn die Schule ist vorbei. Ich kenne ihn zu wenig, um ihn zu vermissen. Vielleicht gerade so gestreift habe ich seine Welt. Ich bereue, nie den Mut aufgebracht zu haben, ihm meine Fragen zu stellen und nach seinen Geschichten zu fragen. Vielleicht hätte er mich eingelassen in seine Welt und mir Einblick gewährt in seine Tiefe. Vielleicht hätte ich von seiner Aufrichtigkeit lernen können. Vielleicht hätte er mich als nicht so plump empfunden wie ich mich selbst. Vielleicht hätten wir unsere Gedanken und Worte zelebrieren können und so etwas sein können wie – Freunde.

Doch nur beobachtet habe ich ihn, heimlich, aus einem großzügigen Abstand, den es gab, weil weder er noch ich je Anstalten gemacht haben, ihn zu überwinden. Vielleicht gerade so gestreift hat er meine Welt, und doch hat er einen Eindruck, einen Einfluss in meiner Welt hinterlassen, den er wohl nie beabsichtigt hat und nie erahnen wird. Der Denkerlehrling.

Epilog

Das Verrückte ist, dass er eigentlich gar nicht weg ist. Eigentlich haben wir die beinahe letzte Gelegenheit genutzt, bei der wir uns hätten treffen können, und er hat mir Texte von sich gezeigt. Er ist tatsächlich ein Poet, und was für einer. Einer von der Sorte, bei denen jedes Wort bedeutsam erscheint. Ganz vielleicht besuche ich Denkerlehrling und Freunde mal in ihrer WG. Und dann passiert vielleicht gar nichts. Oder ganz viel. Wer weiß das schon.

Hinterfragt und aufgewacht

„Aber warum wollen Sie sich denn verändern?“,

fragt mich mein ehemaliger Deutschlehrer auf der Abiturentlassungsfeier. Was diesen Menschen unter anderem ausmacht, ist sein Hinterfragen von Dingen, die sonst irgendwie keiner hinterfragt. Ich habe ihm gerade von meinem Auslandsjahr erzählt und nebenbei erwähnt, dass ich verändert zurück kommen will. Und dann stellt er mir diese Frage.

Und ich bin sprachlos.

Irgendwie war das immer einfach so klar. Auslandsjahr heißt sich entwickeln. Alle sagen immer, so etwas ist total die prägende Zeit und so. Ich wollte das einfach auch.

Ich merke, wie unzufrieden ich mit mir bin. Die Art und Weise, wie ich mich benehme, wie ich wirke, wie ich mit meinen Gefühlen umgehe, was für eine Freundin oder Schwester ich bin, mein Egoismus, mein Trotz, mein Selbstwert… Das ist alles noch nicht so, wie ich das will. Ich bin das oft nicht gerne. Ich will mich entwickeln, um zufriedener mit mir zu sein. Außerdem kann man mit einem Auslandsjahr gut angeben und dann kriege ich Anerkennung. Auch das macht dann, dass ich zufriedener mit mir bin.

Irgendwo in mir zieht etwas ziemlich skeptisch die metaphorische Augenbraue hoch.

‚Warum wollen Sie sich denn verändern?‘, klingt es nach in meinem Herz. So viel, was in dieser Frage mitschwingt.

So viel Wertschätzung. So viel: ‚So, wie du bist, ist es doch gut.‘ Und auch, wenn mir das nicht zwingend gefällt, macht diese Wertschätzung sehr viel mit mir. Aber da ist noch mehr. Diese schlichte Frage malt ein großes Fragezeichen hinter mein immer weiter kommen wollen, immer reifer werden wollen. Hinter meine rastlose Jagd nach dem, wer ich gerne wäre, aber einfach nicht bin. Hinter meine Selbstkritik.

Ich seufze. Kaum hat man mal was, was ausnahmsweise mal alle toll finden, und schon taucht ein fast vergessener Mensch auf, stellt alles in Frage und hat damit auch noch Recht.

Natürlich werde ich gehen. Ich glaube, ich muss nur vorher noch mal gründlich bei meinen Motiven aufräumen.

Als ich mich später von meinem Lehrer verabschiede, sagt er zu mir: „Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit und verändern Sie sich nicht zu sehr!“ Ich grinse. „Ich werd mich bemühen!“ Und dann ist er weg, der weise alte Denker mit seinen Fragen, lässt mich zurück mit einer gesunden inneren Unruhe – einer Unruhe, die weiß, dass Selbstannahme nicht auf Veränderung beruhen kann.

Ampeln sind immer rot

Regen fällt auf meine Haut und läuft langsam meinen Arm hinunter. Die Ampel ist rot. Natürlich ist die Ampel rot. Immer sind Ampeln rot, außer sind sind es gerade nicht, aber dann denkt man ja auch nicht über sie nach, also sind sie praktisch immer rot, bis sie eben grün werden, aber das dauert irgendwie generell zu lange. Rote Ampeln guckt man viel länger an als grüne. In meinem Kopf sind Ampeln immer rot.

Ich stehe also an einer roten Ampel und es regnet. Das Wasser rinnt die Straße entlang. Ich habe meine Kapuze nicht aufgesetzt. Ich setze schon lange keine Kapuzen mehr wegen Regen auf. Nur noch wegen Wind. Ich mag es, wenn meine Haare vom Regen nass werden. Falls sie nass werden. Total oft werden sie einfach nur ein bisschen klamm und meine Kopfhaut bleibt trocken. So ist das mit dichten Haaren.

Wie früher als Kind strecke ich meine Hand aus und versuche, Regentropfen in meiner Hand zu sammeln. Und wie früher als Kind fallen überall viel mehr Regentropfen als da, wo meine Hand ist. Das ist wie mit der Ampel. Ampeln sind immer rot und Regen fällt nie genau in meine Hand. Bescheuert, das.

Wo Regentropfen übrigens immer hinfallen, das sind Brillen. Ich nehme meine ab und stecke sie in die Tasche. So dringend brauche ich sie dann auch wieder nicht.

Die Ampel wird grün. Ampeln sind immer rot, und jetzt wird sie grün. Aber ich gehe nicht rüber. Ich habe mich entschieden, dass ich doch gar nicht über die Straße will. Eigentlich will ich nirgendwo hin. Eine Frau mit Hund schaut mich merkwürdig an, als ich nach meiner Wartezeit an der Ampel statt über die Straße einfach wieder zurück gehe.

Ich will wieder nach Hause. Es gibt keine Zukunft. Nie gab es Zukunft. Zukunft war immer nur Schule, und daran denkt man nicht. Ein kleines bisschen Zukunft waren auch die kleinen Inseln namens Ferien. Die waren immer ewig weit weg, selbst wenn sie nah waren. Wenn sie kamen, war es immer toll, aber irgendwie fühlten sie sich immer auch ein bisschen an wie Seifenblasen. Ganz schnell waren sie so weg, als hätte es sie nie gegeben. Es bleiben nur Erinnerungen – Zukunft gab es nie. Nur Schule. Und jetzt erzählt mir irgendjemand, Schule wäre jetzt fertig. Das macht irgendwie Sinn, denn ich war zwölf Jahre da und seit ein paar Wochen nicht mehr, also muss sie wohl fertig sein. Aber dass jetzt etwas anderes kommen soll, das verstehe ich nicht. Wie kann es denn noch mehr Welt geben? Ampeln sind immer rot, Regentropfen fallen immer auf meine Brille und nie auf meine Hand, und es gibt immer nur Schule.

Ich will wieder nach Hause. Ich will nicht zur Schule, nicht weiter, ich will einfach nur zu Hause sein. Ich will gar nicht woanders hin. Im Sommer bleibt die Zeit eh stehen. Das ist so, weil sie ohne Schule ja schlecht weiterlaufen kann, oder? Eigentlich schwänze ich doch die ganze Zeit, oder?

Ich habe Schule immer gehasst. Man sagt, wenn man erst einmal aus der Schule raus ist, vermisst man sie. Bei mir ist das nicht so. Es gibt wenig auf der Welt, das mich dazu bringen könnte, zurück in die Schule zu gehen, selbst wenn es ginge. Nur irgendwie – irgendwie kenne ich nichts anderes. Ich kenne nur Schule. Zwölf Jahre lang jeden Tag dort gewesen, ein vertrautes Leid, ein bekanntes Ertragen, immer dasselbe, immer der Blick auf das dann, dann wird es besser. Eine Wüste, die mein zu Hause geworden ist. Wüste kenne ich. Mit Wüste kann ich umgehen. Wüste war doch immer schon. Wüste ist mein Leben. In der Wüste hat man Durst, man hat jeden Moment ein bisschen das Gefühl von Sterben, das ist so. Es geht nie weg, aber irgendwann ist es vertraut. Wüste.

Und jetzt stehe ich hier. Die Ampel ist grün. Das „dann“ von früher ist gekommen. Es gibt eine Zukunft.
Aber ich verstehe nicht. Es macht keinen Sinn. Ich weiß nicht, wie man das denkt, was nicht Wüste ist. Ich weiß nicht, wie man das lebt. Ich will nach Hause.
Wo ist zu Hause?

Büchersehnsucht und pädagogischer Stumpfsinn

(Von vor meiner Pädagogik-Abiklausur)

All die Gedanken, die Menschen denken und aufschreiben. All die Tagebücher, Notizbücher, Skizzenbücher, die von irgendwelchen Stiften vollgeschrieben und vollgekritzelt werden. Stifte, die in Händen liegen, die gesteuert werden von dem motorischen Cortex des jeweiligen Gehirns, an das auch Augen und Ohren und Lippen angeschlossen sind. All die Worte und Bilder, die diese Menschen als wertvoll genug empfinden, sie aufzuschreiben.

Es ist nicht die Komplexität von Themen, die mich schnell in den Wahnsinn treibt. Nicht die Überforderung. Viel mehr ist es der Stumpfsinn. Der Stumpfsinn, wenn ich bedeutungslose Theorien für eine Klausur auswendig lernen muss. Wenn irgendeine Haushaltsarbeit zu lange dauert. Wenn ich keinen guten Input finde in den unendlichen Weiten des Internets und der Bücher, immer daneben greife.

Es kann alles so faszinierend sein, wenn man an der richtigen Stelle beginnt. Wenn man gute Autoren, Musiker, Künstler findet. Dann fange ich innerlich an zu singen und platze fast, weil es so gut ist. Wenn man aber an die falschen Stellen kommt, ist alles wie Sand, der einem durch die Finger rinnt und es bleibt nichts außer ein verdächtiges Knirschen zwischen den Zähnen, von dem man nie weiß, warum da Sand sein sollte, aber es ist irgendwie so.

Darf ich bewerten, was Sand ist und was faszinierend? – Wahrscheinlich nicht. Aber ich darf es fühlen, und sagen was ich fühle. Und gerade fühle ich Stumpfsinn. Pädagogischen Stumpfsinn, den ich gerade nach guter alter Bulimie-Manier in mich hineinfresse, um ihn morgen möglichst rückstandslos wieder von mir zu geben. Auf gestempelte Klausurbögen.

Wie viel lieber würde ich in die Bücher von Menschen schauen, die etwas sahen oder hörten oder spürten und daraus Schrift auf Papier machten, denen es gelang, so viel Echtes und Wahres und Schönes in Worte einzufangen, in Worten zu finden, und die ihre Bücher öffnen, für mich, damit ich komme und sie lese. Und ich will kommen und sie lesen! Was mache ich nur hier …

Nicht ganz so wie geplant

„Alles klar?“
Ich schüttel finster den Kopf. Mein Mathelehrer schaut auf meine Klausur, um zu sehen, was ich so fabriziere. Aber darum gehts gar nicht.
„Ich hab mega Regelschmerzen!“, flüster ich ihm erschöpft und frustriert zu. Nichts kriege ich mehr auf die Reihe. Das macht alles keinen Sinn, was ich auf meine Zettel geschrieben habe. Meine Gedanken sind zugedröhnt mit Schmerzen.
„Ja warum sagst du denn nichts? Brich doch ab!“
„Aber dann brauche ich Attest! Krieg ich ein Attest für Regelschmerzen?“

Er geht nach vorne zu dem Mathelehrer des anderen LKs, um abzusprechen, was sie mit dem aufgelösten Mädchen mit Regelschmerzen da machen sollen, dem gerade ungehindert die Tränen über die Wangen laufen. Der Junge im hellgrauen Pulli und mit der Brille, durch die er immer ein bisschen schief durchblinzelt, schenkt ihr eine Packung Taschentücher. Der Rest bemerkt nichts, viel zu vertieft sind alle in diese nicht gerade leicht zu bewältigende Mathe-Vorabi-Klausur.

Ich beruhige mich langsam wieder. Na toll, jetzt gehöre ich also zu denen, die in einer Klausur geheult haben. Nicht gerade mein Lieblings-Image, aber das ist mir gerade herzlich egal.

Mein Mathelehrer kommt zurück. Auch wenn er sonst leicht sadistisch veranlagt ist, ist er in solchen Situationen souverän und sogar fast fürsorglich. Deswegen mag ich ihn.

„So, du gibst jetzt erst mal ab. Du schreibst die Klausur nach. Das mit dem Attest kriegen wir auch hin.“ Ich nicke gehorsam und stehe auf. Jetzt starren mich doch schon einige ein bisschen komisch an. Bestimmt haben sie fragende Blicke und überlegen, was mit mir wohl los ist, dass ich jetzt schon zusammenpacke, aber ich schaue sie nicht direkt an. Hauptsache, ich halte meine Tränendrüsen unter Kontrolle und weine nicht wieder.

Im Oberstufenbüro übergibt er mich der Stufenleitung, die da sitzt und superwichtige Sachen am Computer macht. Die Sache mit dem Attest ist schnell abgesprochen, und mein Mathelehrer geht zurück in den Klausurraum, um seinen anderen Schäfchen zur Seite zu stehen. Oder ihnen genüsslich beim Leiden zuzusehen. Je nach dem.

Im Unterricht soll meine Stufenleiterin voll streng sein, aber da hab ich sie noch nie erlebt, und so finde ich sie voll lieb. Sie bietet mit Johannisbeerkuchen an, den sie für meine Sportlehrerin gebacken hat, die jetzt aber krank ist. Der ist so lecker. Unglaublich gut. Aus Johannisbeeren aus dem eigenen Garten, erzählt sie. Eingefroren, um das ganze Jahr was von ihnen zu haben. Ich fühle mich innerlich aufgelöst, kann mich aber langsam ein bisschen entspannen. Schnacke mit ihr eine Runde über Stress, Latinum und faule, aber schlaue Schüler, und über Studieren, dann fährt sie mich mit ihrem Auto zum Bus.

Regelschmerzen steigen im Auto und im Bus exponentiell an. Wusste nicht, dass da noch so viel Platz nach oben war. Sterbe ein bisschen stumm wimmernd vor mich hin. Momente, in denen man für Weiblichkeit einen hohen Preis zahlen muss.

Entwickle Galgenhumor. „Sina, wie war deine Klausur?“ – „Blutig, Mama, blutig.“
Grinse verzweifelt in mich hinein.

Das erste, was ich zu Hause mache, ist, meine Schmerztabletten zu suchen und sie mir mit ner halben Flasche Wasser in den Körper zu spülen, um dann noch unendliche 40 Minuten keine Wirkung zu spüren. Finde keine Ruhe. Versuche zu lesen. Versage. Tiegere in der Wohnung rum. Schaue drei Mal in den Kühlschrank. Gehe zwei Mal auf Toilette. Weine und schluchze immer mal wieder ein bisschen vor mich hin. Boah, sind Regelschmerzen ne abartige Angelegenheit.

Und dann – innerhalb von einer halben Minute, vielleicht nicht mal – ist das Medikament endlich da angekommen, wo es hinsoll. Ich spüre richtig, wie meine Schmerzen weggehen, als würde man einen Regler runterdrehen. Meine Stimmung schlägt komplett um. Ich bin zwar erschöpft und meine Augen sind angestrengt vom Weinen, aber sonst fühle ich mich wie ausgewechselt. Richtig gut gehts mir! Oh wie wunderbar wundervoll doch meine Welt ist! Wuhu! Ich hole die Ukulele raus und träller für ne Weile ein Lied nach dem anderen.

Da sind doch Drogen drin gewesen, denke ich, und lese die Packungsbeilage meines Schmerzmittels. Hm. Neben ungefähr tausend Horrorszenarien steht in einem Wort bei gelegentlichen psychiatrischen Nebenwirkungen „Erregung“. Trifft es das? Ist das die medizinische Tarnung für suspekte, fast manische Hochgefühle?

Egal. Ich finds geil. Mir gehts super.

Schreibe das Geschehnis in der Klausur später nem Kumpel. Seine Reaktion: Ein ironisch bemitleidendes „ohhh“. Blödmann. Jungs verstehen so etwas einfach nicht. Einem Mädchen muss man nicht erklären, warum es schon vorkommen kann, dass man in der Klausur wegen Regelschmerzen weint. Die weiß, was man da für Todesqualen erträgt. Jungs gucken da nur naiv-dümmlich-verständnislos und fragen, ob das wirklich so schlimm ist, und manche stempeln einen heimlich als Heulsuse ab.

Am nächsten Tag schaut mein Mathelehrer mich fragend an, als ich in den Kursraum komme. Meinen Rausch hab ich zwischendrin ausgeschlafen, Schmerzen ebenso weg, leichtes Erschöpfungstief, aber sonst hat sich mein Zustand normalisiert.

„Gehts dir wieder gut?“, fragt er, als ich ihm das Attest vorlege. Ich nicke. Während er den Zettel abzeichnet, kommentiert er: „Na das war ja was!“

Ja. Das war was.