Ich vereine mich.

Ich will ich sein, einfach so ich sein.

Ich bin zu Hause eine andere Person als in der Schule und in der Schule anders als in der Kirche und in der Kirche anders als auf dem Sommerlager und auf dem Sommerlager anders als bei meiner Verwandtschaft und bei meiner Verwandtschaft anders als zu Hause – und ich kann kaum was dagegen tun. Es ist verwirrend.

Werde eins, Sina. Das bist du schon so viel mehr als früher. Weißt du noch? Damals hast du dich wie ein Chamäleon der Umgebung angepasst. Überall gab es eine andere Ausgabe von dir. Du hast das alles nicht zusammen gekriegt, geht ja auch gar nicht. Du bist schon weit gekommen. Es bringt dich nicht mehr durcheinander, Menschen von einem Ort an einem anderen zu begegnen. Aber so richtig eins bist du immer noch nicht. Bei jeder Person verbirgst du andere Seiten.

Ich vereine mich. Ich sammle die Stücke von mir auf, überall da, wo ich sie verteilt habe, und setzte sie zusammen. Es passt nicht, es ist widersprüchlich, wie bin ich wirklich? – und das ist meine Herausforderung.

So zu leben, dass es passt. Konsequent ein Weg. Einmal ich, nur eine Ausgabe von mir. Immer dieselbe. Überall.

Ganz ich.

Schau her

Es tut so gut, mich zu zeigen. Es tut so gut, mich so zu zeigen, wie ich auch bin.

Zu sagen: Schau her, ich schreibe. Viel. Sehr viel. Das ist mir wichtig.

Schau her, ich filme, und es macht mir Spaß. Ich schneide stundenlang und schau her, so etwas kommt dabei raus.

Schau her, ich male. Und manchmal weiß ich erst drei Wochen später, was es bedeutet.

Schau her, ich glaube an Gott. Ja, und das ist für mich kein Hobby, sondern Leben.

Schau her, Menschenhandel und Lästerei machen mich wütend und schau doch her, wie ich bin, wenn ich wütend bin.

Und ich schau mal her zu Dir, denn ich bin an Dir interessiert. Erzähl mir was über Dich. Zeig Dich mal. Wie bist Du auch?

Wie kannst Du noch sein?

Schul-Metamorphose

Oh Sina, was ist nur mit dir passiert?

Wann hast du dir diese Egal-Mentalität zugelegt? Wann war dieser Moment, seitdem du bei den meisten Fächern vor Klausuren nur noch die Achseln zuckst? Seitdem es dich nicht mal mehr stört, dass du keine Hausaufgaben machst? Seitdem du Klausuren manchmal unfertig abgibst, weil du schlicht keine Lust mehr hast?

Sina, ich find das doof. Ich habe mich immer auf diese letzte Panik am Abend vor der Klausur verlassen, weil ich dann noch schnell gelernt habe und so alles wusste, was nötig war. Mehr musste ich eh nie lernen. Aber jetzt fehlt diese Panik! Was soll ich denn ohne die machen? Du bist so unzuverlässig!

Und morgen schreib ich auch ne Klausur, weißt du. Und dich interessiert das nicht mal. Du erinnerst mich nicht daran. Du findest es nicht wichtig. Es ist dir egal. Es gibt wichtigere Sachen im Leben, behauptest du.

Wobei – eigentlich hast du Recht. Es gibt wirklich viel wichtigere Sachen. Die Zeit ist ja wirklich zu schade zum Lernen …

Hallo Leben!

da tun sich Abgründe auf.

Ich wusste ja schon immer irgendwie, dass ich recht sensibel bin, aber jetzt zu wissen, dass ich zu einer 15-20%igen Minderheit der Bevölkerung gehöre, die „hochsensibel“ ist, ist noch mal eine ganz andere Dimension.

Ganz kurze, grobe, unzureichende Erklärung des Wortes: Bei hochsensiblen Menschen fehlen Filter im Gehirn, die „unnötige“ Informationen ausblenden. Das führt dazu, dass sie Lärm- und Kälteempfindlicher sind, bei Menschen viel schneller Stimmungen und Gefühlslagen wahrnehmen und sämtliche Informationen reflektieren, analysieren und ausführlich verarbeiten. (Und noch tausend andere Folgen.)

20%! Das sind sechs Leute aus meiner Klasse, 42 aus meiner Stufe, 320 an meiner Schule und 30000 aus meiner Stadt! Und ich dachte immer, dass ich irgendwie anders bin, komisch, und ziemlich alleine damit. Aber es ist wohl wissenschaftlich irgendwie stichfest, dass es eine klare Abgrenzung zwischen denn einen 15-20% und denn anderen 80-85% gibt – ohne jeden fließenden Übergang. (Das war wohl eine Studie in Bezug auf Schmerzgrenzen bei sehr hohem Reizeinfluss – also Lärm und sehr schnellen Bildern.) Warum kann trotzdem kein Mensch was mit diesem Wort anfangen? Warum werden mit dem Adjektiv „sensibel“ oft nur weinende Mädchen vor Liebesschnulzen assoziiert?

Ein bisschen Internetrecherche später ist mir auf einmal einiges klar:
Warum ich immer und überall die Tür zumachen muss.
Warum ich in vollen Restaurants nicht gut essen kann.
Warum ich manchmal auf Dinge antworten muss, die der andere doch gar nicht gesagt hat.
Warum mich kleine Unvollkommenheiten im Regal oder an einer Lampe oder so manchmal in den Wahnsinn treiben.
Warum ich Abends nicht ins Bett gehen will.
Warum ich Sachen immer unbedingt richtig machen will.
Warum ich im Gegensatz zu vielen anderen Menschen einen echten Zugang zu Kunst habe.
Warum mir Harmonie so übertrieben wichtig ist.
Warum sich Hunger bei mir so stark auf meine Gemütslage auswirkt.
Warum ich von anderen gerne als „gute Zuhörerin“ beschrieben werde.
Warum mich das Ticken von Uhren so nervt.
Warum ich es schwer in der Pausenhalle unserer Schule aushalte.
Warum ich Schule so viel anstrengender empfinde als mein Praktikum mit psychisch kranken Menschen oder die Besuche an der Arbeit meiner Mutter.
Warum ich so viel schlechter in allem bin, wenn ich dabei beobachtet werde.
Warum ich so oft das Gefühl habe, dass ich viel mehr Innenleben habe als die meisten anderen Menschen.

Ich fühle mich plötzlich so verstanden!
Und das hängt alles irgendwie mit meiner Hochsensibilität zusammen. Hm. Da eröffnen sich Welten!

Überall, auf sämtlichen Seiten wird geschrieben, dass so gut wie nie alle Kennzeichen von Hochsensibilität zutreffen. Was bei mir ja erst mal so gar nicht zutrifft: Ich wurde sicher nicht von Eltern und Lehrern als „schüchtern“ bezeichnet. :D Schon Leute, die mich fünf Minuten kennen, wissen, wieso. Und leicht erschrecken tue ich mich auch nicht gerade. Auch träume ich nicht.

Ich muss mir wirklich von der einen Freundin dieses Buch zu dem Thema ausleihen. Wenn ich mich in einer Stunde Internetrecherche schon so wiederfinde, was ist dann wohl mit einem ganzen Buch?

Ach Leutkens, ich beginne gerade, mich selbst zu verstehen. Hach wie schön. Ich bin plötzlich so normal … Und auch wieder nicht.

Sina ist hochsensibel.
Ich wiederhole das jetzt in meinem Kopf, bis ich mich daran gewöhnt habe. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. …

Wie ich nicht bin

Der Witz ist, dass ich gar nicht so bin. Also – gar nicht.

Dude. Ich bin anders. Ich bin kein Trampel, ich bin nicht ungeschickt. Ich bin kein Party-Verweigerer. Ich bin nicht ewig pseudo-tiefgründig. Ich bin keine Problemtante. Und ich bin auch kein Schleimer. Und kein Laberer. Und vor allem bin ich nicht so völlig raus aus der Realität, wie du zu meinen scheinst.

Dude. Ich bin nicht so, wie du denkst: Streber, fleißig, gute Noten, Schleimer, Alleskönner und Nichtswisser in der normalen Jugendwelt. Ich bin nicht so brav, wie du meinst, nicht so ahnungslos und dumm. Und ich bin nicht so willig für Alkohol und Sex, wie du von mir erwartest.

Dude. Ich bin auch keine große Heldin mit Antworten auf alles. Ich bin nicht perfekt und ich bin auch nicht vorbildstüchtig. Und nicht so weise, wie du manchmal meinst. Was du von mir erwartest, kann ich doch niemals stemmen. Ich bin auch nur eine Schülerin mit Fehlern.

Dude. Ich bin fünfzehn. Ich weiß, dass du das weißt. Nur, weil ich angeblich so reif für mein Alter bin, bin ich aber trotzdem noch fünfzehn und will trotzdem manchmal so bescheuert sein, wie man es nur in meinem Alter kann. So: nicht Kind, nicht junger Erwachsener-bescheuert. Dann brauchst du gar nicht so zu gucken.

Ihr müsst mich schon lassen, wie ich bin. Wenn ihr ein vorgefertigtes Bild von mir habt, macht ihr mich zu dem, als den ihr mich sehen wollt. Aber ich bin nicht so, und ihr seht das nicht.

Ich bin nicht so.