Angst und Anfang

Wann hat meine Angst jemals gelogen?

Mir scheint, ich habe ein sehr feines Gespür für Dinge. Ich habe Vorahnungen, die sich sehr, sehr oft so oder so ähnlich bestätigt haben. Ich weiß, wann Briefe für mich kommen, wer auf dem Camp mit mir in eine Gruppe kommt und wer mir was erzählen wird, ohne es wirklich zu wissen. Ich ahne es einfach, und wenn es dann eintrifft, denk ich mir nur: Wusste ich. Vielleicht bilde ich mir das nur ein und habe einfach nur sehr viele Vorahnungen, sodass immer irgendwelche eintreffen und mir die anderen nur nicht auffallen, aber das glaube ich nicht. Dafür sind sie manchmal zu speziell und zu konkret und wie aus dem Nichts heraus. Also, ich hab da ja so eine Idee, wo diese Vorahnungen herkommen … Manchmal glaube ich diesen Vorahnungen nicht. Ach, Quatsch, denke ich. Und besonders dann bestätigen sie sich.

Was ganz anderes als Vorahnungen sind Befürchtungen und Ängste. Das Spiel mit den Vorahnungen ist unterhaltsam, aber Angst überhaupt nicht. Wenn ich es mir so überlege, habe ich kaum Angst. Ich habe keine Angst vor Menschen, auch vor denen nicht, vor denen viele andere Angst haben. Psychisch Kranke, sehr dominant auftretende Lehrer, schlechte Kommunikatoren – alles kein größeres Problem. Ich habe keine Angst vor Spinnen (nur je nach Art und Größe manchmal Ekel). Ich habe keine Angst vor Höhe oder Platzmangel und liebe es, neue Sachen auszuprobieren. Ich habe keine Angst vor neuen Situationen – okay, manchmal schon. Das kommt so ein bisschen darauf an. Manchmal ist das total easy und manchmal echt schwer, ohne dass ich sagen könnte, warum. Ich habe keine Angst vor meiner Zukunft, weil ich weiß, dass am Ende einfach alles gut sein wird. Ich habe nicht mal Angst vor dem Tod – hatte ich nie. Nur vor den eventuell mit dem Sterben verbundenen Schmerzen.

Aber manchmal habe ich auch Angst. Und damit meine ich nicht diese Nervosität vor einer neuen Situation, sondern böse Vorahnungen und echte Angst. Sie schwillt untergründig an und an und an, bis sie sich entweder bestätigt oder sie irgendein Ventil zum Entweichen findet. Wobei das dann auch nicht dauerhaft ist …

Und wenn sich die Angst dann bestätigt – Tja. Dann habe ich wenigstens Klarheit. Dann habe ich etwas, was ist. Dann wird die Angst gegen Schmerz und Wahrheit eingetauscht, und damit kann ich wesentlich besser umgehen. Und wenn es noch so schlimm ist. Die Wahrheit ist stabil, existent, greifbar, erklärbar, sichtbar. Angst dagegen ist wankelmütig, nicht greifbar, schwer erklärbar, unsichtbar und manchmal weiß ich gar nicht, ob sie real ist. Aber die Angst ist jetzt weg. Die Frage ist, was ich jetzt mit der Wahrheit anfange. Wo ich anfange. Wie ich anfange.

Was ich anfange.

Langsame Schritte

Meine Schritte sind langsam. Ich gehe furchtbar gern langsam. Allerdings nur, wenn es schön ist. In Orten und Städten voller Menschen und künstlicher Strukturen gehe ich schnell, aber hier gehe ich langsam.

Um mich herum ist Gras. Ich kann mit meinen Fingern hindurch streichen, ohne mich zu bücken, so hoch ist es. Da sind Blumen und Kräuter und Disteln, und dann ist da noch der Himmel. Und da bin ich, und ich fühle mich, als wäre ich ein junges Tier, ein Fuchs oder ein Fohlen oder ein Reh und noch etwas ganz anderes. Ich bin frei und jung und stark und wild und verspielt und hier und jetzt und glücklich und ach – ich bin Teil von dem allem hier, kein Fremdkörper in der Natur. Ich fühle mich, als wäre ich nach Hause gekommen. Meine Lunge ist voll mit frischer Luft, und es riecht nach Ruhe und nach kleinen Geheimnissen. Es riecht nach Streunen. In bin so herrlich unbeobachtet. Keiner weiß, dass ich hier bin. Keiner sieht, was ich tue, und mein Gehirn ist befreit von Gedanken über mein Auftreten und dem Ich in den Augen anderer.

Ich renne in bisschen, und dann gehe ich wieder ganz langsam. Ich bleibe stehen, um mir eine Blume anzusehen, und wähle meinen Weg nach der Höhe der Gräser. Schließlich komme ich am Waldrand an. Da steht er, mein Hochsitz. Alt und halb kaputt, wenige Meter hinter der Wiese, mit einem wundervollen Ausblick. Ich steige über den umgekippten Stacheldrahtzaun, bahne mir meinen Weg durch Brenneseln und Gestrüpp und kletter die rostige Leiter hoch. Ich klappe das eine Brett um, das noch von der Bodenklappe übrig geblieben ist, und setze mich darauf. Atme durch.

Und dann muss ich weinen. Auf einmal kommen Tränen hoch, immer mehr und immer mehr. Weil ich diese Welt manchmal nicht ertragen kann. Weil sie zu schwer für mich ist. Ich kann gar nicht mehr aufhören, und dabei weiß ich gar nicht so wirklich, was jetzt gerade so schlimm ist. Der Wind streicht durch meine Haare und macht sie durcheinander. Alles in mir tut weh. Ich kann nicht mehr. Auf einmal hab ich vergessen, wo mein Platz ist. Ich fühle mich eingesperrt. Man, ich bin doch wild! Ich will doch raus, ich brauch mehr Zeit, was soll denn das. Ich finde die Wunden nicht, die so wehtun. Ich verstehe mich nicht. Woher kommt das auf einmal? Kann nicht mehr, kann einfach nicht mehr.

Irgendwann, und ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, habe ich mich wieder beruhigt. Ich trockne mein Gesicht ab und warte, bis mein Atem nicht mehr so zittrig ist. Dann mache ich mich wieder auf den Weg zurück – was bleibt mir auch anderes übrig? Ein Fuß vor den anderen. Meine Schritte sind langsam.

Bewegte Bilder

Bilder, Geräusche, Musik, Stimmung
wird von mir aufgenommen und frisst sich in mein Hirn rein, frisst sich tief in mein Hirn rein, durchdringt und durchtränkt es, füllt es, und ist dann überall.

Wenn ich mich mit dir unterhalte, ist es plötzlich da. Wenn ich nachdenken will, lässt es mich nicht los. Wenn ich etwas völlig anderes mache, Spaß habe, kommt es wie ein dunkler Schatten und hüllt mich ein, frisst mich auf, frisst sich wieder in mich hinein. Sogar meine Träume werden davon dominiert, und ich schrecke viel zu früh nach einem Albtraum aus dem Schlaf.

Und nur langsam, ganz langsam, geht es Millimeter für Millimeter weg, holt ich nicht mehr so oft ein, gibt mir Raum für Frieden.

Deswegen mag ich keine Filme gucken.

nix klappt mehr, allesscheiße, oder?

Für eine ganz bestimmte Freundin.

Enttäuscht von sich selbst.
Weil alles nicht so klappt, wie es die anderen von ihr erwarten. Wie sie selbst es erwartet.
Warum klappt es denn nicht so, wie sie es von sich gewohnt ist?
Was ist los?
Sich bemühen, sich zu bessern. Sich konzentrieren und versuchen, das Verbockte auszuradieren. Wieder fallen. Wieder der ganze Scheiß. Was ist los, was ist los, verdammt! Warum klappt nichts?
Ängstliche Blicke. Frust. Sich selbst innerlich strafen. Sich ärgern. Gedankenkarussell fahren und nicht aussteigen können. Wiederholen, wie sehr es einem leid tut. Alles gut machen wollen. Warum verschlingt der Boden sie nicht? Innere Kämpfe. Fluchtinstinkt. Dableiben. Weitermachen. Seinen Wert vergessen. Sich selbst vergessen. Nicht die Kühle, schlicht darüber zu stehen. Nicht so dastehen wollen, wie die anderen sie jetzt wohl sehen müssen. Ein krampfhaftes Gefühl zwischen Hilflosigkeit, Frust und Erschöpfung. Nicht weinen. Weitermachen.

So ist es doch, oder?

Was soll ich dir sagen? Wenn ich dich sehe, gehst du auf einem roten Teppich. Du trägst ein wunderschönes Kleid und einen Mantel, der dich beinahe unverwundbar macht. Du trägst eine Waffe bei dir, dein Herz. Und du hast einen Bodyguard, der nicht nur unendlich stark und mächtig, sondern auch noch verdammt gutaussehend ist.
So etwas sagt dir der Spiegel natürlich nicht. Und du selbst bist da auch blind für. Aber vielleicht, so die Vorstellung …

Ach, ich weiß selbst nicht, was ich sagen will. Bitte habe dich lieb.
Ab mit dem Kopf durch die Wand, bis dir Hornhaut an der Stirn wächst.
Und wenn selbst das nicht mehr klappt, könntest du immer noch unter den Tisch kriechen und da „Zwei kleine Wölfe“ singen.
Oder tot stellen.
Aber bitte nicht sein.
Ich brauch dich noch.
Sina

Dieses Gefühl

„Wie geht es dir?“ – „Ganz gut.“
Dieses Gefühl, dass da noch etwas ist, was ich vergessen habe, und dass es wichtig ist; aber dass ich irgendwie nicht darauf komme.

„Ist (noch) was?“ – „Nein, ist alles in Ordnung.“
Dieses Gefühl, dass ich etwas wichtiges vergessen habe, dass ich es aber irgendwie nicht greifen kann.

„Ja, dann bis bald mal!“
Dieses Gefühl, etwas nicht gesagt zu haben, ohne zu wissen, was es ist.

Hm.

Der Mensch hinter deinem Gesicht

Du sitzt da und redest mit mir, erzählst mir irgendetwas von Klischees über Männer und Frauen und die Männlichkeit von gesunder Ernährung. Du redest mit mir, und ich frage mich, wer diese Person eigentlich ist, mit der ich da spreche. Was hinter deinen Worten steckt. Was hinter deinen Bewegungen steckt. Was hinter deiner Mimik steckt. Was hinter deiner Stirn steckt.

Ich kenne dich kaum, verglichen mit dem, was es da alles zu kennen gibt. Wie viele Dinge tut der Mensch an einem Tag? Wie viele Dinge lässt er? Wie viele Gefühle hat der Mensch an einem Tag? Wie viele Gedanken? Wie viele Themen geistern dem Menschen an einem Tag im Kopf herum? Wie viele Ideen? Ängste? Freunden? Fantasien? Aus wie vielen Motiven handelt der Mensch an einem Tag? Aus wie vielen Überzeugungen? An einem einzigen Tag? Heute? Und wie ist das mit einer Woche? Einem Monat? Einem Jahr? Einem Lebensabschnitt?

Ich weiß nichts von dir. Du redest mit mir und ich weiß nichts. Dein Gesicht ist schön, doch ich habe keine Ahnung, wie der Mensch dahinter aussieht.

Von wem weiß ich überhaupt etwas? Wen kenne ich? – Gibt es da überhaupt jemanden? Bei einigen Menschen streife ich einen Bruchteil dessen, was sie sind, doch selbst diejenigen, die ich am besten kenne, sind so viel größer als alles, was ich je sehen könnte.

Wie könnte ein Mensch je behaupten, einen anderen zu verstehen?
Wie könnte es ein Mensch je wagen, einen anderen zu beurteilen?
Wie könnte sich ein Mensch je über einen anderen Menschen stellen?

Du redest mit mir und das alles, was du sagst und was du bist, ist nicht so simpel wie es klingt. Du bist nicht so unscheinbar, wie du immer tust. Du bist so viel mehr als das, was ich weiß. Da gibt es so viel mehr, was man nachvollziehen könnte.

Aber ich verstehe ja nicht mal mich selbst.

da tun sich Abgründe auf.

Ich wusste ja schon immer irgendwie, dass ich recht sensibel bin, aber jetzt zu wissen, dass ich zu einer 15-20%igen Minderheit der Bevölkerung gehöre, die „hochsensibel“ ist, ist noch mal eine ganz andere Dimension.

Ganz kurze, grobe, unzureichende Erklärung des Wortes: Bei hochsensiblen Menschen fehlen Filter im Gehirn, die „unnötige“ Informationen ausblenden. Das führt dazu, dass sie Lärm- und Kälteempfindlicher sind, bei Menschen viel schneller Stimmungen und Gefühlslagen wahrnehmen und sämtliche Informationen reflektieren, analysieren und ausführlich verarbeiten. (Und noch tausend andere Folgen.)

20%! Das sind sechs Leute aus meiner Klasse, 42 aus meiner Stufe, 320 an meiner Schule und 30000 aus meiner Stadt! Und ich dachte immer, dass ich irgendwie anders bin, komisch, und ziemlich alleine damit. Aber es ist wohl wissenschaftlich irgendwie stichfest, dass es eine klare Abgrenzung zwischen denn einen 15-20% und denn anderen 80-85% gibt – ohne jeden fließenden Übergang. (Das war wohl eine Studie in Bezug auf Schmerzgrenzen bei sehr hohem Reizeinfluss – also Lärm und sehr schnellen Bildern.) Warum kann trotzdem kein Mensch was mit diesem Wort anfangen? Warum werden mit dem Adjektiv „sensibel“ oft nur weinende Mädchen vor Liebesschnulzen assoziiert?

Ein bisschen Internetrecherche später ist mir auf einmal einiges klar:
Warum ich immer und überall die Tür zumachen muss.
Warum ich in vollen Restaurants nicht gut essen kann.
Warum ich manchmal auf Dinge antworten muss, die der andere doch gar nicht gesagt hat.
Warum mich kleine Unvollkommenheiten im Regal oder an einer Lampe oder so manchmal in den Wahnsinn treiben.
Warum ich Abends nicht ins Bett gehen will.
Warum ich Sachen immer unbedingt richtig machen will.
Warum ich im Gegensatz zu vielen anderen Menschen einen echten Zugang zu Kunst habe.
Warum mir Harmonie so übertrieben wichtig ist.
Warum sich Hunger bei mir so stark auf meine Gemütslage auswirkt.
Warum ich von anderen gerne als „gute Zuhörerin“ beschrieben werde.
Warum mich das Ticken von Uhren so nervt.
Warum ich es schwer in der Pausenhalle unserer Schule aushalte.
Warum ich Schule so viel anstrengender empfinde als mein Praktikum mit psychisch kranken Menschen oder die Besuche an der Arbeit meiner Mutter.
Warum ich so viel schlechter in allem bin, wenn ich dabei beobachtet werde.
Warum ich so oft das Gefühl habe, dass ich viel mehr Innenleben habe als die meisten anderen Menschen.

Ich fühle mich plötzlich so verstanden!
Und das hängt alles irgendwie mit meiner Hochsensibilität zusammen. Hm. Da eröffnen sich Welten!

Überall, auf sämtlichen Seiten wird geschrieben, dass so gut wie nie alle Kennzeichen von Hochsensibilität zutreffen. Was bei mir ja erst mal so gar nicht zutrifft: Ich wurde sicher nicht von Eltern und Lehrern als „schüchtern“ bezeichnet. :D Schon Leute, die mich fünf Minuten kennen, wissen, wieso. Und leicht erschrecken tue ich mich auch nicht gerade. Auch träume ich nicht.

Ich muss mir wirklich von der einen Freundin dieses Buch zu dem Thema ausleihen. Wenn ich mich in einer Stunde Internetrecherche schon so wiederfinde, was ist dann wohl mit einem ganzen Buch?

Ach Leutkens, ich beginne gerade, mich selbst zu verstehen. Hach wie schön. Ich bin plötzlich so normal … Und auch wieder nicht.

Sina ist hochsensibel.
Ich wiederhole das jetzt in meinem Kopf, bis ich mich daran gewöhnt habe. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. Sina ist hochsensibel. …