Schrei

Nachts bin ich manchmal brutal ehrlich und sehr krass. Alles sieht schärfer, heftiger, intensiver aus. Auch, was tagsüber noch okay war – oder sich zumindest so angefühlt hat. Ein Ausbruch.

Und ich schreie.

Ich schreie, weil ich mal nichts entscheiden will. Immer zu wählen und abzuwägen – ich werde müde davon. Will immer alles richtig machen. Zwischen zwei Dingen entscheiden – oder habe ich doch Kraft für beide? Ständig muss ich Prioritäten setzten. Abwarten und sehen, ob es richtig war, um irgendwie daraus zu lernen. Anstrengend.

Ich schreie, weil ich keine Zeit dazu finde, mich in einer Ecke zu verkriechen und abzutauchen. Es ist immer irgendetwas zu tun, und mich stört das. Ich kann das nicht leiden, immer etwas tun zu müssen. Wenn ich meine Pausen nicht kriege, bin ich wie betäubt und kann gar nichts mehr machen, egal wie viel Druck da ist. Menschen sagen mir, das sei okay und normal, so zu sein. Aber kaum einer nimmt Rücksicht darauf. Ich kann mit mir selbst nicht umgehen. Ich versteh die Welt nicht und sehne mich nach dunkler, leiser Geborgenheit.

Ich schreie, weil ich mich manchmal selbst kein bisschen mag. Weil ich Gnade für die ganze Welt habe, nur für mich selber nicht. Weil ich mich in Selbstkritik auffresse und mein Spiegelbild hässlich, mein Verhalten peinlich und meine Ziele lächerlich finde. Ich beginne, denen zu glauben, die mich kritisieren und beleidigen, und die Meinung derer abzutun, die mich loben und mögen. Manchmal hasse ich mich so sehr, dass es fast nicht mehr aushalte und mir weh tun will, mich richtig verletzen will – wie als Strafe. Und dann hasse ich mich dafür, dass ich so abstoßend denke, und so negativ bin – und finde den Weg zur Selbstannahme und zum Frieden nicht mehr.

Ich schreie, weil ich mich in vielen Situationen so fühle, als würde man mich emotional foltern. Wenn über jemanden gelästert wird und ich stehe daneben. Wenn Menschen mir ihre Frustration und ihren Schmerz erklären – obwohl das kein bisschen meine Baustelle ist und wir uns nicht mal nahe stehen. Wenn jemand sagt, er will wegziehen, und dann keine sichtbaren Anstalten macht, es umzusetzen. Wenn meine Gabe des Analysierens und Interpretierens zu weit geht und bösartige Motive, Konflikte und Kritik findet, wo keine ist. Mein Herz ist bewusstlos und spürt trotzdem Schmerzen. Meine Mimik und meine Stimme wollen nicht mehr meinen Befehlen gehorchen, sondern sterben ab. Du fragst, wie es mir geht, und

Ich schreie, weil Worte zu still sind. Weil sie zu harmlos sind, zu schüchtern, zu glatt. Ich schreie, weil ich wissen will, dass es mich noch gibt.

Aber eigentlich schreie ich nicht. Eigentlich bin ich still. Der Schrei hallt nur in meinem Inneren, und ich warte, dass ihn irgendjemand hört.


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