Westler im Bus

„Guckt mal. Westler.“

sagt irgendeine von uns dreien, als wir die Busstation betreten.
„Touristen“, diagnostiziert eine andere routiniert.
Die kleine Reisegruppe sieht verwirrt aus und nicht wirklich, als wüssten sie, was sie tun.
„Sollen wir denen mal erklären, wie man Bus fährt?“, frage ich amüsiert-gleichgültig.
„Nee, erst mal schauen, ob sie alleine zurecht kommen.“ Wir grinsen.

Vorhin erst haben wir zwei westlichen Backpackern beim Fähre fahren geholfen: Zur Insel hin zahlt man, zurück nicht. Am Schalter zahlt man nicht und wechselt auch keine Währungen, sondern wechselt nur Scheine zu alten Münzen. Nein, mit Dollar meinen sie nicht euer amerikanisches Geld, sondern malaysische Ringgit. Die Automaten nehmen nicht alle, sondern nur alte Münzen. Nein, man bekommt kein Ticket, sondern geht dann einfach durch. Ist doch alles völlig selbsterklärend. Wo ist denn das Problem?

Die verwirrte Reisetruppe hat es kurz darauf allerdings tatsächlich alleine in den Bus geschafft und wirkt wie erwartet völlig fehl am Platz. Dem Akzent nach zu urteilen Amerikaner. Wir genießen es, deutsch zu sein: Uns versteht keiner, wenn wir lästern.

„Wie sehr die einfach auffallen.“
„Echt. Aber Westler fallen immer auf.“
„Viel zu groß.“
„Und zu lange Nasen.“
„Guckt mal, die sind fast alle blond.“
„Der da trägt bestimmt auch nur Hollister, um cool zu sein.“
„Und Nikes. Wetten, die sind auch noch echt?“
„In so kurzen Sachen würde auch kein Einheimischer rumlaufen. Typisch Touristen.“

Pause.

„Fallen wir eigentlich auch so auf?“
Wir gucken uns nachdenklich im Bus um und schauen uns die Touristen und Einheimischen an.
„Nee, wir ziehen uns nicht so an wie Touristen.“
„Außerdem ist keine von uns blond.“
‚Aber Sinas Haare sind rot‘, denken alle und keiner sagts. Es würde die Argumentation kaputt machen.

Erneute Pause.

„Ich glaub, für die Einheimischen sehen wir genauso aus wie die Touristen“, spricht dann endlich wer die Wahrheit aus.
„Wahrscheinlich.“ Wir grinsen und eine von uns zieht ihr Tuch fester um den Hals.

Kein Einheimischer würde sich bei den gefühlten 12 Grad im Bus ein Tuch umlegen. Sowas machen nur die komischen Westler, die mit den Klimaanlagen nicht zurecht kommen.
Die Touristen haben keine Tücher. Sie haben keine eingepackt, weil sie dachten: Malaysia ist heiß, da braucht man sowas nicht. Sie erkälten sich. Wir wissen es besser.

Wir verpassen unsere Bushaltestelle, weil zwar alles unterschiedlich, für uns aber völlig gleich aussieht und keiner aufgepasst hat. Kichernd stolpern wir eine Haltestelle zu spät neben einem Stand mit Soja-Shakes aus Plastiktüten auf die Straße.

Die Einheimischen schauen uns aus dem Fenster hinterher.

Klippenmädchen

Eine liebe Freundin von mir malte mich mal vor einem Jahr oder so. Vielleicht ist es noch länger her. Sie ist ein bisschen jünger als ich, wir quatschen im Bus, und wenn es ihr schlecht geht, umarme ich sie.

Und das war, was im Gedanken an mich aus ihrer Hand hervorging:

Sina - Das Mädchen auf der Klippe

Sina – Das Mädchen auf der Klippe

Und ich liebe es.

Der Mann mit dem Buch über sich selbst

Im Bus saß ein Mann, der ein Buch über sich selbst las. Zumindest war er der Mann auf dem Cover. Wenn er es nicht war, dann war es zumindest sein eineiiger Zwilling. Oder sein Klon.

Er sah dem Mann auf dem Cover des Buches auf jeden Fall zum Verwechseln ähnlich. Und er las das Buch sehr interessiert. Ich weiß nicht, warum er das gelesen hat. Vielleicht will er das Buch veröffentlichen und er hat es ein letztes Mal gegengelesen, bevor es in den Druck geht. Oder jemand hat heimlich eine Biographie über ihn geschrieben, die er dann zufällig in einem Buchladen gesehen hat. Oder er findet sich einfach geil und ließt sein Buch jetzt einfach selbst – zum achten Mal. Weil es kein anderer ließt.

Jedenfalls hat der Mann ein Buch über sich selbst gelesen – und ich hab ihn dabei erwischt.

… dachte ich zumindest. Als er das Buch kurz vorm Aussteigen eingepackt hat, habe ich feststellen müssen, dass er doch nicht so ganz genau aussah wie der Mann auf dem Cover. Aber das verdränge ich jetzt einfach mal. Weil ich die Vorstellung zu gut finde – ein Mann, der im Bus ein Buch über sich selbst ließt. Ich feier das.

Windräder und verendete Helden

Als ich dich im Bus sah – du saßt über den Gang mir schräg gegenüber – als ich dich da sah, und deine mittellangen braunen Zottelhaare, durch die ich gerne mit meinen Fingern gestrichen hätte, weil sie weich aussahen, und deine braunen Augen und deine schiefen Lippen – und als du dann geseufzt hast, nachdem du fünf Minuten reglos aus dem Fenster geschaut hast, und dein Smartphone aus deiner Jeans geholt hast um widerwillig mit dieser Welt in Verbindung zu treten, mit der Welt und deinem Leben und den Leuten, die in dir nur sehen, was ihnen passt – da dachte ich mir so ganz still:

Schon wieder. Schon wieder ein verendeter Held, der keine Schlachten mehr kennt, und der sich stattdessen mit Profilbildern von Menschen unterhält, die sich wahrscheinlich selbst nicht mehr kennen, der in all dem Stress gelangweilt ist und viel macht und nichts ist. Schon wieder ein Held, ein gutaussehender sogar, wenn deine Augen, Junge, wenn deine Augen nicht so widerstandslos und angepasst wären, so ganz ohne Abenteuerlust, so ganz ohne jede sympathisch-männliche Aggressivität, die mit Gewalt nichts zu tun hat, so ganz ohne Grund, überhaupt zu kämpfen, so ganz ohne Freude. Nur Spaß ist da, oberflächlich, aber gerade nicht mal das, gerade tippst du in dein Smartphone. Ich könnte wetten, dass du einen lächelnden oder lachenden Smiley einbaust, der nichts von dir widerspiegelt. Und dann schaust du wieder hoch, aus dem Fenster, auf das Feld, die Windräder, die sich drehen und drehen und auch dieser Kampf ist sinnlos.

Ich schaue dich an, immer noch, in dein Gesicht. Du hast eine Narbe an der Schläfe – ich würde gern die Geschichte dazu hören und ich hoffe, dass sie sich lohnt. Vielleicht ist sie ja ein Zeuge davon, dass du lebst, oder gelebt hast, denn jetzt gerade so wirkst du tot, mein Freund mit den braunen Zottelhaaren, deinen schokobraunen Augen und dem schiefen Mund, tot. Lebendig begraben in einem Sarg aus ständiger Erreichbarkeit, Sicherheit und Bequemlichkeit, aus Erwartungen und Spaßhülsen, und du darin, tot und tot und immer noch nicht lebendiger.

Vielleicht bist du ja doch lebendig und hast nur einen schlechten Tag, kann ja immer noch sein, aber dein Outfit sieht zu durchdesignt aus, als dass das stimmen könnte. Ich will deine Haare durchwuscheln, weißt du, und dein Gesicht könnte so leicht verwegen und kriegerisch und attraktiv aussehen, aber deine Augen, deine Augen … Ich würde dir gern dein Handy aus der Hand nehmen und es abschalten, dir deine Sicherheit und deine Bequemlichkeit nehmen, und gucken, was passiert; dein Helden-Ich wachkitzeln und mit dir abhauen, weg von allen Erwartungen, vielleicht ans Meer. Ich würde dir ein Schwert in die Hand drücken und dein Herz in Flammen stecken. Dich frei lassen. Nur aus Neugier, was wäre wenn, und wer du wohl eigentlich bist.

Aber das mache ich nicht. Tot bist du, und das tut mir auch leid, aber was soll ich an deinem Grab stehen? Wecken kann dich immer noch ein anderer. Ich werfe dir einen Blick zu wie eine Blume aufs Grab, während du ohne jede Gesichtsregung irgendjemandem ein Herz schickst. Vielleicht, falls wir uns nochmal wiedersehen und ich die Gelegenheit bekomme, deine Haare endlich anzufassen, dann pikse ich dich, bis du aufstehst aus deinem Grab, bis du die Friedhofmauern sprengst und wir im Sommer in Decken gekuschelt die ganze Nacht auf dem Dach sitzen bleiben und Cocktails trinken können.

Ich steige aus dem Bus aus, und der kühle Wind schlägt mir ins Gesicht. Die Augen zusammen gekniffen gehe ich weiter, die Stadt, die Schule, ein Sarg voller verendeter Helden, die keine Schlachten mehr kennen, sich selbst nicht kennen, in all dem Stress gelangweilt, viel machen und nichts sein, Augen widerstandslos und angepasst, ohne Abenteuerlust, ohne Grund zu kämpfen. Und die Windräder drehen sich und drehen und drehen und auch dieser Kampf ist sinnlos.

10 Fakten über mich – Episode 2

1) Ich hasse es, zu telefonieren oder zu chatten. Ich mag es einfach nicht, mit jemandem zu kommunizieren, dessen Gesicht ich nicht vor mir sehe. Außerdem muss ich da immer alles ausformulieren, was man sonst mit einem Blick sagen könnte.

2) Lieblingstier: Elch. Schon live in der Natur gesehen. Tolle Tiere.

3) Ich bin eines von diesen Kindern, die nie an den Weihnachtsmann geglaubt haben.

4) Musik als Hintergrund geht bei mir gar nicht. Musik nimmt mich viel zu sehr ein, um mich dabei auf etwas anderes konzentrieren zu können.

5) Dorfkind! Zum Glück.

6) Ich hasse Fahrradfahren. Zum Glück muss ich das auch nicht. In meinem Dörfchen kommt man überall auch zu Fuß hin und für alles andere muss man eh Bus fahren.

7) Ich betreibe Stühlerassismus. Schwarze und dunkle Stühle sind blöd, helle sind gut. Ich schocke damit regelmäßig Leute, aber egal. (Das ist allerdings nur entstanden, weil bei uns in der Schule die hellen Stühle die neueren und bequemeren sind.)

8) Ich trinke Wasser. Immer. Ständig. Alle anderen Getränke trinke ich selten mehr als ein Glas.

9) Ich habe keinen Fernseher. Und wenn mal bei Freunden die Kiste läuft, bin ich auch froh drüber. Alter, was läuft da denn für ein Scheiß? Was ist das denn bitte für eine Zeitverschwendung?

10) Ich habe übertrieben viel Ahnung von Computerspielen, dafür, dass ich keine spiele. Ob meine Brüder daran Schuld sind?

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Episode 1  2  3  4  5

Schützenfest – Alle Jahre wieder …

Alle Jahre wieder kommen sie mit groß Tamtam und mit stolzgeschwellter Brust mit ihren Gewehren und Schützenkönig und Hofstaat und blabla an unserem Haus vorbei. Einmal Samstag, zwei Mal Sonntag, einmal Montag. Glaube ich. Und spielen dabei alle Jahre wieder die gleichen Lieder. Wir haben zwei verschiedene Kapellen – die sich nicht so ganz abstimmen, und so spielen sie manchmal gleichzeitig.

Alle Jahre wieder will keiner Schützenkönig werden, weils so teuer ist, und das Geschieße dauert ewig, weil alle absichtlich daneben zielen. Es wird gegessen und getrunken (vor allem getrunken). Abends wird zu schlechter Musik (die man bei mir im Zimmer noch hört) noch mehr getrunken und getanzt. Kinder bis sechzehn Jahren versuchen jedes Mal wieder, nicht rausgeschmissen zu werden, und wer sich nicht ganz doof anstellt, schafft das in der Regel auch. Am Folgetag erzählen sie dann stolz im Bus, wie viel Alkohol sie erwischt haben – und beschweren sich über Kopfschmerzen. Na so was aber auch.

Alle Jahre wieder wird der Verkehr blockiert. Die Busse sind viel zu spät, weil sie den Umzug abwarten müssen. Und ich muss deswegen warten und die ganze Zeit diese peinliche Form der Dorfkultur ertragen. Im Bus befinden sich dann andere Flüchtlinge auf ihrem Weg ins Exil, alle genauso genervt wie ich.

Jedes Dorf hat seine Feste, und bei uns in der Gegend ist es halt das Schützenfest. Ist ja auch okay – irgendeinen Vorwand braucht man ja, um sich gemeinsam bei schlechter und lauter Musik diverse Rauschmittel zuzuführen.

Nur – warum müssen die mich da mit reinziehen? Warum muss ich die „Musik“ ertragen und ewig auf meine Busse warten, nur weil die sich zusaufen wollen?

„Sina, das ist eben Dorfkultur. Für die ist das eben wichtig. Das musst du doch verstehen“, sagt meine Mama, die sich noch am meisten von uns bemüht, sich in unser Dorf zu integrieren.

Ne, sorry. Kann ich nicht verstehen.

Das einzige Gute ist, dass ich da immer 10€ kriege.
(Mag kindlich klingen, aber was anderes Gutes ist mir beim besten Willen nicht eingefallen.)

Hochsensibler Moment (2)

(Ein Moment, den jeder mal erleben kann, der aber meiner Beobachtung nach typisch Hochsensibler ist.)

Wieder im Bus. Ich weiß nicht, ob ich irgendeine Regung im Augenwinkel beobachtet habe oder so, aber auf einmal richtet sich mein Blick direkt auf ein Mädchen, dass auf der anderen Seite des Ganges sitzt. Sie ist ein oder zwei Jahre älter als ich. Im Gegensatz zu mir fährt sie gegen die Fahrtrichtung, sodass ich ihr direkt ins Gesicht sehen kann.

Woran ich es bemerke, weiß ich nicht, aber für mich ist offensichtlich, dass es ihr nicht gut geht. Sie blickt ins Leere, ihre Augen sind matt. Daran ändert auch die Schminke nichts, obwohl diese ja immer strahlende und geheimnisvolle Augen verspricht, jedenfalls wenn man sich so schminkt wie sie. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt. Sie kommt mir vor wie eine vergessene Puppe, die auf dem Regal verstaubt.

Warum weiß ich das oder glaube zumindest, es zu wissen? Warum sehe ich sie überhaupt so bewusst an und warum mache ich mir überhaupt Gedanken?

Ich bete kurz für sie und lasse sie und ihre Geschichte wieder los.