Zeiten erkennen

Im Zug saßen ein Mann und eine Frau und lasen schlaue Bücher. Sie hatte ein kurzes, leichtes rosa Röckchen an und eine Strickjacke, die blonden Wellen teils zusammengebunden, teils offen. Er mit Jeans und Hemd, und beide ihre schlauen Bücher mit hochtrabenden Titeln. Er war irgendwie fokussierter als sie. Sie hat ab und zu ihr Buch in den Schoß sinken lassen, aus dem Fenster geschaut und liebevoll ihren Partner an der Schulter berührt. Ob der das wirklich mitbekommen hat, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Er war wirklich versunken.

Auf der anderen Seite des Ganges saß ich. Mein kleiner, grüner Trolly oben auf der Gepäckablage – erst vor einigen Wochen in Malaysia gekauft und ich liebte ihn jetzt schon wie einen alten Kameraden – und meinen schwarzen Rucksack neben mir. Wir fuhren durch einen Tunnel, waren in Bern, wieder raus aus Bern, Industriegebiet – und dann kam das Bergpanorama, das mich gar nicht mehr loslassen wollte. Ich war so lang nicht in der Schweiz gewesen. So kam es mir zumindest vor. Zwei Jahre, rechnete ich nach. Ging eigentlich.

Ich lese keine schlauen Bücher. Ich hab nämlich Zeit. Produktivität, das war mal. Vor einigen Wochen noch, Unterricht, Vorbereitungen, tausend To Dos. Das kommt auch wieder. Studium, Wohnung, Sport und all solche Dinge. Aber momentan, momentan erlaube ich mir, nicht jede Minute weise nutzen zu müssen. Ich bin Zug gefahren ohne etwas schlaues zu lesen oder zu schreiben. Ich habe geguckt. Und damit war ich beschäftigt.

Zeiten erkennen, meinte mal jemand zu mir. Man muss lernen, die Zeiten zu erkennen. Ich liebe dieses Konzept – alles hat seine Zeit. Das Leben funktioniert in Phasen, die sich abwechseln. Unterschiedliches wird wichtig. Es kommt. Es geht. Es gibt einen Rhythmus.

Diese Zeit jetzt ist zum Gucken da. Berge angucken. Angucken, was war. Gott angucken. Mich selbst angucken. Die Welt beobachten. Eine Zeit des Sehens, und die Hände dürfen ruhen, müssen nicht mehr schaffen, tun, geschäftig sein.

Das Paar auf der anderen Seite des Ganges laß schlaue Bücher. Ich schaute. Sie wirkten glücklich, und ich wars auch. Zug fahren, und es beginnt eine neue Zeit.

Genug

Heute habe ich über mich gedacht:

Bin ich gut genug? Ist das, was ich bringen kann, wer ich bin, gut so? So viel ist da falsch in mir, kaputt in mir, und ich selbst kann das nicht reparieren. Ich weiß nicht, wie das geht.

Heute bin ich unterwegs gewesen. Ich habe einen vertrockneten Bach gesehen, bin zwischen Windrädern spazieren gegangen, war später nachts noch draußen in der Dunkelheit. Worte, Worte mit Menschen, und ich bin nicht mehr einfach nur ich, sondern ein Gegenüber, habe ein Gegenüber, und wer immer ich bin, was immer ich tue, das bleibt nicht bei mir. Das macht etwas mit dem Menschen, mit dem ich unterwegs bin. Das baut auf oder zieht hinunter.

Ich stehe nicht für mich alleine. Ich bin Teil von etwas.

Heute habe ich über mich nachgedacht, und heute wusste ich:

Nein, genug bin ich nicht. Nicht genug, um nicht zu verletzen. Um es alles richtig zu machen. Das kann ich nicht.

Aber ich bin genug. Denn ich weiß, dass ich schwach bin. Ich weiß, dass ich Dinge falsch mache. Ich weiß, wie man um Vergebung fragt und selbst vergibt. Ich kann mein Bestes geben. Ich weiß, wer ich bin und was ich gut kann – so einigermaßen zumindest. Ich kenne den Ort für alle meine Sorgen und alle meine Angst, weiß zu wem ich die Scherben bringen muss, wenn etwas kaputt gegangen ist.

Ich bin genug, denn Jesus hat mir genug gegeben und gibt mir jeden Tag neu genug. Er ist genug. Darum bin ich es.

Wenn mit „teacher!“ ich gemeint bin

„Teacher, teacher, here!“
Ich gehe hinüber zu dem Jungen.
„Teacher, I write this line, and when I finish next line – okay?“
Aufmerksamkeit. Gesehen werden. Das braucht er nach all dem Schmerz der Flucht, des neuen Landes.
Ich lache. „Yes, okay!“

„Teacher, teacher. I can write beautiful. I can also write fast. Now I write fast. When teacher not like I rubb. Then write beautiful, okay?“ – „Yes, yes, okay.“ Niemand mit einer Handschrift wie meiner kann von einem Kind erwarten, eine Seite neu zu schreiben, weil sie nicht schön genug aussieht.

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Ein Holzverschlag mit Wellblechdach, kein fließend Wasser, Hühner. Willkommen bei eben diesem Jungen zu Hause. Die Mama hat Früchte und Sojamilch gekauft – Geld, das sie auch hätte brauchen können, um die Mägen ihrer Kinder zu füllen. Der Junge erzählt mir ein bisschen aus seiner Vergangenheit und wie sehr er sich um die Zukunft Sorgen macht – berechtigte Sorgen. Ein Ausweg aus seiner Situation ist kaum in Sicht. Traurige, niedergeschlagene Augen, und ich bekomme eine Ahnung davon, dass da eine Last, ein Schmerz ist, dessen Ausmaß ich nicht verstehen kann. Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich jetzt doch die naive, reiche Weltverbesser-Weiße bin, die ich nie sein wollte. Er zeigt mir seinen Affen. Der Affe heißt Michael und beißt nur ihn nicht. Zum Abschied verspricht er mir, weiter zur Schule zu kommen. Ob er dadurch wirklich ein Chance für seine Zukunft bekommt, steht in den Sternen, aber es ist momentan wohl der einzige Ansatz.

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Ich bin wütend. Nicht, weil die Welt so ungerecht ist – den Jungen zu besuchen hat mich eher weich als wütend gemacht. Ich bin wütend, weil vor mir zwanzig Zweitklässler sitzen, die absolut nicht gehorchen wollen, und von denen anscheinend zwei Drittel kein Englisch kann – und dabei sollten sie das inzwischen. Ich bin wütend auf die Lehrerin der ersten Klasse, weil sie den Kindern weder Regeln noch Englisch beibringt, und auf die Kinder, weil sie sich keine Mühe geben.

Ich will nicht wütend sein. Ich will Wege finden. Eben erst habe ich doch das Zuhause gesehen – die Not. Es ist nicht der Fehler der Kinder. Und doch könnte ich mit ihnen gerade den Raum tapezieren. Augen zur Uhr, zur Tafel, zurück zu den Kindern. Und weiter.

Kontraste.

„Teacher, I go toilet. I finish and then I go toilet. Okay, teacher?“

Ja, Kleiner. Okay.

Unter Flügeln

(Begonnen am 21. November 2015, heute wiedergefunden und vollendet)

Riesige Vögel fliegen vor der Sonne, Scharen von ihnen, und lassen kaum noch Licht hindurch. Es wird dunkel.

Im Dunklen sitze ich. Ich sitze allein. Ich sitze und alles zieht an mir vorbei wie Vögel, wie Vögel, die auf mich zurasen und von mir wegrasen und deren Flügelschlag mich berührt. Noch immer sitze ich. Tage werden zu Wochen und Wochen zu Monaten. Dunkel. Allein.

Dunkel und allein klingt schlimm. Ist es aber gar nicht. Ich habe es immer geliebt, nachts draußen zu sein, besonders mit nur wenigen Leuten oder alleine. Nicht gesehen werden birgt eine ganz besondere Geborgenheit, und allein sein eine ganz besondere Freiheit.

Dunkel und allein ist nicht schlimm, aber es konfrontiert einen mit sich selbst. Im Dunklen, wo man nicht viel sieht, ist man auf einmal mehr bei sich. Alleine, wo kein anderer einen definieren kann, man nicht Teil der Welt eines anderen ist, da sieht man seine eigene Welt. Das ist manchmal schwer.

Vögel fliegen vor der Sonne, große, in Scharen, und sie sind gekommen und werden wieder gehen. Ich sitze da, sitze allein im Dunklen. Mich selbst werde ich immer bei mir haben. Meinen Blick nach innen gerichtet entdecke ich, was ich nie kannte. Im Schatten entdecke ich Schönheit.

Vielleicht ist es auch gar nicht der böse Schatten etwas Bedrohlichen, in dem ich gerade bin, sondern der behutsame Schatten schützender, weicher Schwingen eines so viel größeren Gottes. Und vielleicht ist die geheimnisvolle Schönheit, die meine Augen da erkennen lernen, seine.

Unter meinem Mantel

Unter meinem Mantel, da sieht es manchmal ganz anders aus, als man so denkt. Warm ist es, denkt man, aber manchmal ist es auch ganz kalt. Von irgendwo her ist eine Kälte hinein gekommen – oder viel eher ist einfach die Wärme gegangen – und kalt ists, kalt, und mein Herz friert.

Das ist manchmal, und das war lange. Unter meinem Mantel, da ists manchmal aber auch ganz warm. Kalt ists, denkt man, weil sie sich so einwickelt, irgendwie so abweisend, in sich ist. Das stimmt aber eigentlich gar nicht, denn die Momente gibt es, wo ich mich an einem inneren Feuer wärme, von dem man vielleicht gar nichts weiß. Vielleicht brauch ich grad gar keinen, der mir da rein quatscht. Vielleicht reicht es mir.

Unter meinem Mantel, da erlebe ich manchmal Licht und Dunkelheit, Genießen und Leiden, Hoffen und Verzweifeln, von dem man alles gar nichts sieht, gar nichts weiß, und es nicht mal ahnt. Menschen schauen mich an und meinen zu verstehen und sind irritiert, wenn ich dann doch anders bin, als sie dachten. Am Besten verstehen mich die, die wissen und damit rechnen, dass da noch viel mehr Sina ist als ihr Erleben von mir.

Unter meinem Mantel, da ists manchmal ganz anders, als man so denkt. Da ist mehr. So viel mehr noch. So viel mehr noch Sina, und eng ziehe ich diesen Mantel um mich, lasse die Blätter, den Regen und die Schneeflocken fallen

und bin.

Ein Vogel, der fliegt und nicht landen kann

Ein Vogel, der fliegt und nicht landen kann.

Ich liebe Neues, liebe das Unbekannte, das Risiko, und manchmal treibt das Menschen in den Wahnsinn. Dann sagen sie, ich sei unvernünftig und solle mal nachdenken und dass ich nicht so kindisch sein soll. Und wenn ich das höre, steht in mir jemand auf, der heißt Trotz. Und der sagt gar nicht viel. Der mischt nur alles auf, und blockt ab – du hast mir gar nichts zu sagen. Was weißt du schon davon, was vernünftig ist?

Und dann renne ich los und mache, was ich will, weil ich weiß, sie sehen es nicht gerne. Dann habe ich extra viel Spaß daran und bin genau das Gegenteil. Antworte nicht, springe von Klippen, fahre in ferne Länder.

Und dann wann anders. Jemand erwartet das Beste von mir, und ich – ich war immer eine von den wirklich Guten. Ich war immer besonders, konnte es. Wurde immer gelobt, wertgeschätzt, anerkannt. Menschen haben gestaunt. Und jetzt, wo jemand das Beste von mir erwartet – ich gebe es. Natürlich gebe ich es. Weil ich das bin, immer war. Erwartungen übertreffen. Menschen begeistern von mir. Gewohnheit. Routine. Druck.

Gefangen darin.

Zeit zerfließt, und immer noch dasselbe. Immer noch trotzig. Immer noch verstrickt in dem Erfüllen von Erwartungen. Immer noch beides im Streit miteinander. Immer noch, immer noch, und all die Wege, die ich gegangen bin – es ist mitgekommen. Zeit umspült meine Füße, und ich merke, ich bin wie ein Vogel, der fliegt und nicht landen kann, nicht landen kann, denn Erwartungen und der Trotz und ich kann nicht und meine Wege sind so anders.

Und dann wird es mehr, wird es mehr, Stromschnelle, Sturm, und ich habe keine Wahl mehr. Entweder zerreißt es mich, zerbreche ich, oder etwas in mir wird anders. Aber ich halte fest, halte fest, denn ich weiß es nicht besser.

Und es braucht all den Druck, all das Ziehen, damit etwas in mir zerbricht, sodass ich loslasse, sich mein verkrampfter Klammergriff löst, braucht die dunklen Nächte, die Einsamkeit und die Angriffe, die Überforderung. Sanft und schmerzvoll wird mir etwas genommen, und ich habe keine Wahl mehr. Die Kraft versagt. Lasse los.

Ein Vogel, der fliegt und nicht landen kann, im Sturm verletzt und auf den Boden gestürzt, um wieder Laufen zu lernen.

Lerne laufen und lerne tanzen – und es macht Spaß, mit diesen neu gewonnen Schätzen, inneren Wahrheiten zu spielen und zu sehen, wie ich wohl reagiere, was meine Gedanken und Gefühle neuerdings so tun. Erwartungen, Trotz – es ist so anders. Ich kann. Ja, etwas ist gebrochen, jemand hat mich gebrochen, aber ich sehe: Es ist gut. Es ist gut, denn jetzt ist so viel Neues möglich. Die Weite. Kostbar.

Meine Wege sind so anders.

Die Normalität des Leidens oder German Hugs braucht diese Welt

An meiner Wand hängen Fotos, und auf einem davon ist der wärmste German Hug zu sehen, den ich mir momentan vorstellen kann. German Hugs sind warme, tiefe Kuschelumarmungen, in die man hineinversinken und in denen man sich wohlfühlen kann, und ganz besonders gut kann das meine Freundin Luci, und von ihr und mir in das Foto.

Ich vermisse Umarmungen. In Malaysia umarmt man sich nicht so wirklich. Nur so ganz vorsichtig, ohne sich wirklich zu berühren.

In mir drin ist es momentan oft kalt. Das nennt man Wüstenzeit. Oder einfach ‚hart‘. Vielleicht nennt man es auch Übergangsphase, Kulturstress, erwachsen werden. Isolation. Herausforderung. Was auch immer.

Meine Freunde wissen das, und weil sie mich um eine viertel Erde herum schlecht umarmen können, schreiben sie mir. Und bei dem, was sie so schreiben, lerne ich einiges darüber, wie Menschen eigentlich harte Zeiten und Leiden sehen.

Zuallererst – ja, man darf mir, auch wenn es mir gerade schlecht gehen mag, von dem erzählen, was gut läuft. Dafür braucht man sich nicht schämen, schuldig fühlen oder irgendwas. Es tut mir gut, zu hören, wenn es den Leuten gut geht, die mir am Herzen liegen.

Auch sonst brauche ich, wenn es mir schlecht geht, eigentlich keine Sonderbehandlung. Die meisten Menschen verstehen intuitiv – zuhören, ermutigen, das ist gut. Aber das darüber hinaus auch gut ist, einfach weiterzumachen, mich mit reinzunehmen und dabei sein zu lassen, das scheint gar nicht so klar zu sein. Die Normalität des Leidens ist verloren gegangen. Es wird entweder verdrängt oder dramatisiert. Dabei ist es das gar nicht wert. Es ist einfach nur. Deswegen kann man sich damit mal beschäftigen, und dann aber auch mit etwas anderem weiter machen.

Ich merke, dass ich nicht die einzige bin, die das Leiden aushalten muss. Meine Freunde müssen es auch aushalten – vor allem, dass sie mich nicht retten können. Manche wissen das gar nicht, dass durch ihre Ermutigung nicht gleich alles einfach wird. Sie erwarten von sich, mir eine Lösung anbieten zu können. Ich erwarte das nicht von ihnen. So simpel ist das alles nicht.

Immer wieder schreiben mir Menschen, wie leid es ihnen tut, dass mein Jahr, das doch so gut werden sollte, jetzt hart ist.

‚Gut‘ und ‚hart‘ schließt sich nicht aus. Gut, wenn mein einziges Bestreben mein Wohlfühlen wäre, dann vielleicht schon. Aber wenn ich Charakter,  Beziehungen, Weisheit mit reinnehme, dann können harte Zeiten mir dienen. Schaffe ich es, durch die Gezeiten zu gehen, ohne bitter zu werden, dann können sie mich liebender, verständiger und geduldiger machen. Und wenn ich alte Frauen ansehe, deren Herz und Geist wach geblieben ist, und höre, welche Zeiten sie zu so einer Ehefrau, Mutter, Freundin, Leiterin gemacht haben, dann weiß ich, dass ‚gut‘ manchmal mitten im ‚hart‘ liegt.

Vielleicht klinge ich jetzt weise. Vielleicht klinge ich, als könnte ich gut mit meinem Leid umgehen. Das stimmt nicht. In der Regel hasse ich es und immer wieder will ich aufgeben. Wie selten nur gelingt es mir, es als normalen Teil vom Jetzt anzunehmen, in dem ein „gut“ verborgen ist. Wie selten gelingt es mir, zu leben, was ich im Kopf langsam zu begreifen beginne.

Jetzt gerade zum Beispiel, wo ich das alles durchdacht und aufgeschrieben habe, fühle ich mich einfach nur nach verkriechen und heulen und nach einer ganz tiefen Luci-Umarmung. Meine Seele versteht vieles nicht. Die versteht den Wert hinter etwas nicht, das unangenehm ist. So weit kann meine Seele nicht denken. Meine Seele weiß nur: Aua. Es tut weh und ich mag es nicht.

Aber German Hugs, die versteht meine Seele. Umarmungen braucht diese Welt, besonders dieses Land, und jetzt gerade ganz besonders ich.