Vorsichtig ziehst du deinen Ärmel hoch. Da kommen sie zum Vorschein, die Zeugen deines gestrigen Abends, ganz dicht, ein Schnitt neben dem anderen, der ganze Unterarm. Mir wird eiskalt. Sonst war es alle paar Wochen mal ein Schnitt, selten zwei, in Ausnahmen sogar vier, aber das hier? Mich durchfährt ein Schmerz, als hättest du nicht nur dich selbst, sondern auch mich geritzt. Die vielen, vielen kleinen Striche, manche mit Blutkruste, andere nur ganz unscheinbare dünne rote Linien. Ein paar kreuzen sich und fallen aus der Reihe, aber sonst sind sie erschreckend regelmäßig und geordnet. Zu systematisch. Viel zu systematisch.
„Und hier an der Seite auch“, sagst du und zeigst darauf. Ich schaue dich an. Es tut mir so weh, dich so zu sehen. Du bestrafst dich für die Fehler anderer. Du fühlst dich so unglaublich wertlos. Du versuchst deinem inneren Schmerz ein äußeres Gegengewicht zu geben. Du weißt nicht, wie du anders damit umgehen sollst. Und so weinst du Tränen aus Blut. Dein Schreien verhallt ungehört. Hilfe kommt nicht, und ich kann dich auch nicht retten. Ich kann dir nur zuhören und versuchen, dein Selbstwertgefühl irgendwie zu heben, aber selbst das funktioniert eigentlich nicht. Ich trage deinen Schmerz mit, ob ich will oder nicht, und ich winde mich innerlich unter jedem neuen Schnitt, den du dir zufügst.
Sprachlos. Ich weiß keine Worte, die ich dir noch geben könnte. Das geht alles viel zu schnell. Vor ein paar Wochen haben wir noch überlegt, wie du da raus kommen könntest, und du hast mir gesagt, dass du das alles nicht mehr willst. Du wolltest aufhören, bevor du so richtig drin landest. Du hast gesagt, dass es echt gut ist, dass dir von deinem eigenen Blut immer schlecht wird, weil das dazu führt, dass du dich so gar nicht öfter als ein, zwei, drei mal schneiden kannst. Und jetzt? Eine ganze Armee von Schnitten, viel zu viele. Erst der Arm, und als da kein Platz mehr war, die Seite. Und ich weiß, dass das immer noch nur ein Schatten von dem ist, was in dir drin vorgeht, was du jeden Tag tragen musst.
Ich bin die einzige, die danach fragt, wie es dir wirklich geht, und die dir wirklich mal zuhört. Ich bin die einzige, die dich nicht entweder mit Ignoranz, Ablehnung oder Sarkasmus behandelt. Wahrscheinlich bin ich auch die einzige, die dir sagt, was für ein toller und wundervoller Mensch du bist, trotz allem. Und das setzt mich irgendwie unter Druck. Ich weiß nicht, wie viel ich mich von dir abgrenzen abgrenzen soll. Wo sind die Grenzen? Wie viel kann ich, darf ich, soll ich, will ich in dich investieren? Wie viel kann ich dir überhaupt helfen? – Und ich bete wieder für dich, segne dich einmal mehr, weil ich weiß, dass es nichts Größeres gibt, was ich für dich tun kann.
Du ziehst deinen Ärmel wieder runter, verbirgst alles ordentlich hinter seiner Maske, die du nur trägst, damit sie endlich durchschaut wird. Du hebst den Kopf und siehst mich an. Deine Augen sind so trüb … Bitte. Ich will nicht bald an deinem Grab stehen müssen.
Du sollst doch leben!