Auf dem Kassler Bahnhof…

Ich stehe am Gleis, habe noch zehn Minuten von meiner Umsteigezeit übrig und überlege mir, ob ich noch mal hoch zum Bäcker gehen soll oder nicht. Mein Blick schweift zur Rampe, die hoch zu den Geschäften führt. Ich mustere die ganzen Reisenden und muss ein wenig über die Vielfalt lächeln. Ob Bussiness-Typ mit Anzug, russische Oma mit Kind, Studenten mit Wanderrucksäcken oder alleinreisende 14-jährige Mädchen: Alle kommen sie einträchtig nebeneinander die Rampe hinunter zum Zug. Sie begegnen sich hier einmal (und dieses eine Mal meist nicht einmal bewusst) und sie sehen sich danach wahrscheinlich nie wieder. Ich schaue wieder auf die Uhr, trommle ein bisschen geistesabwesend auf dem Griff meines Koffers rum und warte.

„Hey, du, ja, entschuldigung!“

Weit aufgerissene Augen, ein breites und lächerlich wirkendes Grinsen und schlaksige Bewegungen kommen in Form eines Mannes auf mich zu, der vielleicht so um die dreißig ist, ein wenig größer als ich, mit Rucksack, normale Kleidung, unkoordinierte Bewegungen. Irgendwas an seinem Gesicht ist komisch. Mein Herz klopft schneller und ich denke nur: Vorsicht. Wer weiß, was der will.

„Ich?“
„Ja, äh, entschuldigung, aber kannst du mir vielleicht helfen?“
Ich schaue in fragend an. Hoffentlich will er nur eine Auskunft. Er fäht fort.
„Also, kommst du viellecht hier aus Kassel?“
„Nö.“ Was will der? Unauffällig schiebe ich meinen Koffer zwischen uns, damit er mir nicht zu nahe kommt.
„Ja, ich auch nicht.“ Breitestes Grinsen. Etwas gruselig ist er schon. „Und zwar, das ist mir jetzt wirklich peinlich, ja, sowas ist mir auch noch nie passiert, ja“ Die Mimik und Gestik, mit der er das unterstützt, ist beeindruckend. „Und zwar muss ich nach Berlin, ja“ Schnell unterbreche ich ihn in der Hoffnung, dass er dann einfach wieder geht.
„Da gehen sie am besten da hoch und dann…“
„Nee, warte mal, der Zug fährt nämlich stündlich auf Gleis drei, und, das ist mir jetzt wirklich peinlich, dass ich dich das so fragen muss, aber mir fehlen noch genau neun Euro, ja, und..“

Er erzählt mir, wie viele Leute er schon alles gefragt hat und auch reichere ud ältere Leute und dass die ihn alle ignorieren und dass er ja schon sooo lange an dem Bahnhof hier festsitzt und ihm nur diese neun Euro fehlen und so weiter. Immer noch diese unkoordinierten Bewegungen. Diese übertriebene Mimik mit den weit aufgerissenen Augen. Während seiner Ausführung denke ich nach, so schnell ich kann. Drogenabhängig? Schizophren? Sonst irgendwie geistig behindert? Oder einfach nur komplett aufgelöst? Leg dich nur nicht mit ihm an, befehle ich mir. Wer weiß, wozu er in der Lage ist und du bist hier ziemlich schutzlos. Gib ihm einfach was er will, dann ist er weg. Geh kein Risiko ein.

Schließlich ist er fertig und schaut mich bittend an. Als ich nicht sofort reagiere, fügt er noch hinzu:

„Du kannst mir auch noch deine Adresse geben, dann schicke ich dir das Geld zurück.“

Nee, das mache ich ganz sicher nicht. Wenn er meine Adresse hat… oh je, ich will gar nicht wissen, was er dann alles anstellen kann. Also antworte ich:
„Ach quatsch! Für die paar Euro…“ und krame mein Portemonaie hervor. Er gibt zu, dass das mit dem Zuschicken wirklich eine alberne Idee war.
„Ich muss mal gucken, ob ich überhaupt so viel habe…“, murmel ich um ein wenig auszutesten, was er machen würde, wenn ich ihm nichts geben würde oder könnte.
„Nee, aber wenn du nicht genug hast, ist das vollkommen okay und ich frage wen anderes!“
Trotzdem wage ich es nicht, einfach zu sagen: Oh, nee, soviel hab ich wirklich nicht, tut mir leid, viel Glück beim Fragen, tschüss. Ich gebe ihm den Schein.
„Hier.“
Er bedankt sich mehrfach und freut sich, dass es jetzt noch einen Euro mehr hat, von dem er sich vorher noch einen Kaffee kaufen will. Dann zieht er ab.

Mein Herz pocht laut. Ich schaue ihm hinterher. Von hinten sieht er stinknormal aus. Hoffentlich kauft er sich keine Drogen von dem Geld, denke ich mir. Der Zug kommt. Welchen Kaffee kriegt man denn für einen einzigen Euro?, frage ich mich noch, bevor ich einsteige.

Was hätte ich wohl gemacht, wenn ich zwei Jahre älter und ein starker Junge gewesen wäre? Und was hätten wohl meine Freunde oder Großbruder gemacht? „Hatte er kleine Pupillen? Wenn er so Stecknadelpupillen hatte, war er auf Heroin. Schizophren glaube ich nicht, sonst hätte er nicht so gezielt auf dich zugehen können. Hm“, diagnostiziert Mama mir später am Telefon. „Keine Ahnung ob er kleine Pupillen hatte. Seine Augen waren zwar komisch, aber ich weiß nicht mehr, was an denen“, antworte ich. „Warum ziehe ich solche Menschen eigentlich an? Ist ja nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert.“ Ich spüre, wie Mama grinst. „Du fällst eben auf mit deinen Haaren und bist immer sehr… präsent.“ Na danke auch. Präsent. Was soll das denn heißen?

Deswegen merkt euch, Leute: Seid an Bahnhöfen immer sehr unpräsent. Is besser so.


2 Kommentare

  1. Voll lieb von dir. Ich glaube auch, dass mir das total gruselig gewesen wäre. Ich merke es mir, aber mir fällt es nicht sonderlich schwer, unpräsent zu sein. Mich übersehen sie immer alle. Man müsste uns mischen ;)

  2. Daran habe ich noch gar nicht gedacht, dass das lieb gewesen sein könnte, was ich da gemacht habe. Ich habe immer nur an Selbstschutz gedacht. Aber eigentlich ist ja auch nichts großartiges passiert: Ein Mann hat mich nach Geld gefragt. Na und?


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