wachgeküsst

Was war der Auslöser? Wir wissen es nicht so genau. Ich denke, es war die Physiotherapie. Meinen Sohn in einer bestimmten Position halten, auf eine bestimmte Weise Druck ausüben, drei Mal am Tag – das war die erste Übung. Eine Woche später schaut er wacher in die Welt. Seitdem ist er in Fahrt.

Im Wochentakt kommen die Fortschritte: drehen, rundrobben, Vierfüßler, robben, rocking, Halbsitz, die ersten Löffel Brei. „Ich sehe es selten, dass ein Kind, das so viel Verzögerung in seiner Entwicklung hat, dann auf einmal so schnelle Fortschritte macht“, sagt die Physiotherapeutin. Der größte Unterschied zu vorher liegt aber in etwas ganz anderem: Er ist beziehungs- und bindungsfähig geworden. Raus aus seiner eigenen kleinen Blase kommt er jetzt und will Teil unserer Welt sein. Robbt zu mir und spielt am liebsten direkt neben meinen Füßen. Will Körperkontakt, um beruhigt zu werden. Überprüft immer wieder, ob ich hinschaue, wenn er spielt. Ist bei Fremden vorsichtig geworden und bei Mama und Papa so wie immer. Was soll ich sagen? Es nährt mein Mamaherz. Mein kleiner Sohn nimmt mich wahr als jemand, der für ihn besonders wichtig ist. Das tut so gut.

Im Kontrast wird erst sichtbar, was vorher alles gefehlt hat. Jetzt, wo er Kontakt aufnimmt, wird uns erst bewusst, dass die ersten 10 Monate seines Lebens kaum Kontakt da war. Er war in seiner eigenen Welt: Wenn die innere Uhr gesagt hat, er ist müde, hat er einfach geschlafen, egal, wo wir waren und was um ihn herum passiert ist. Wenn er hungrig war, musste er jetzt gestillt werden und hat dann einfach getrunken. So etwas wie Ablenkung gab es für ihn kaum. Wenn er spielen wollte, hat er das getan. Neue Dinge haben bei ihm wenig Neugier geweckt. Ob ich im Zimmer war oder nicht, wer ihn hält, wickelt, stillt, hat für ihn keinen Unterschied gemacht. Eine Sirene ist losgegangen? Ein Hund fängt plötzlich an zu bellen? Keine Reaktion. Es hat für seine unmittelbare kleine Welt, seine körperlichen Bedürfnisse, keine Rolle gespielt.

Und jetzt will er, dass ich singe, robbt ganz nah an mein Bein, wenn ich Gitarre spiele, und schaut genau hin. Wenn jetzt jemand neben uns aufgeregt was erzählt, kann er sich nicht mehr aufs Trinken konzentrieren. Er kann nicht mehr einfach schlafen, wenn wir auf einer Geburtstagsfeier sind, sondern braucht Ruhe. Jetzt will er wissen, ob er an den Pulli kommt, der da vom Stuhl herunterbaumelt, und probiert es immer wieder. Er ist frustriert, wenn das Nachbarsmädchen ihm die Rassel wegnimmt, mit der er gerade gespielt hat. Er meckert jetzt auch, wenn er keinen Bock hat oder ihm langweilig ist, und nicht nur dann, wenn ein körperliches Bedürfnis unbefriedigt ist. Aber er freut sich auch ganz anders, lacht nicht nur, sondern mich auch an. Er ist wie eine Knospe, die aufgegangen ist; wie ein See, der aufgetaut ist; es ist, als hätte ihn jemand wachgeküsst.

Was heißt das alles jetzt? Wird er auf Dauer den Weg in die Welt der normalen, neurotypischen Kinder finden? Es sieht so aus, als könnte das tatsächlich passieren. Aber keiner kann das wirklich beantworten. Für mich ist das okay. Ich weiß jetzt: Ich bin für ihn seine Mama. Er geht seinen eigenen Weg. Aktuell reicht das.


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