Freihändig

Auf dem Weg vom Arzt im Vorort zum Sportladen in der Stadt kaufe ich mir beim Bäcker eine Käse- und eine Laugenstange. Ich suche mir eine Bank und frühstücke in der Vormittagssonne. Es ist eine schöne Bank – hinter mir eine Weide, vor mir ein Feld und dahinter die Stadt. Hinter der Stadt die zwei Burgen und der Fernsehturm. „Guck mal, die Burgen“, ist ein Satz, den wohl jeder schon gehört hat, der hier mit mir spazieren war. Der Anblick dieser Burgen ist Heimat für mich geworden.

Ich habe Zeit. Endlich, endlich ist da nichts mehr, das ständig an meinen Gedanken und an meinen Gefühlen nagt. Nirgends eine Dringlichkeit, eine Not, ein Konflikt. Stattdessen Frieden. Ich bin frei. Innen drin und außen rum. Meine Seele kann auf Wanderschaft gehen. Sie geht auf Wanderschaft und fängt an zu spielen. Wenn ich frei bin, dann spiele ich. Mit dem Wind und den Bäumen und mit mir. Ich blödel rum und lache über mich selbst. Hoffentlich beobachtet mich keiner, denke ich. Und lache, weil mir das irgendwie auch egal wäre.

Ich fahre freihändig Fahrrad und strecke die Arme so hoch in den Himmel, wie ich kann. Zu Hause tanze ich zu Green Day durch die Küche und backe einen Kuchen, einfach so und nur für mich. Ich mache extra viel Schokolade rein und lecke die Schüssel aus.

Und zwischendurch: Erinnerungen. An diesen Sommer. Hochzeiten feiern mit alten Freunden. Neue Leidenschaft fürs wohlbekannte Sommerlager. Wie wunderbar es ist, versöhnt zu sein. Welcher Friede darin liegt, alles Gott zu geben und sich immer nur den nächsten kleinen Schritt von ihm leiten zu lassen. Wie gut, dass es nicht an mir hängt, alle Probleme zu lösen und Schwierigkeiten zu überwinden. Wie gut, dass mein Versagen kein Problem ist. Wie gut, dass Gott und Menschen mir vergeben. Wie gut, dass Gott alles in seine Hand nimmt.

Gott hat alles im Griff.
Und ich? Ich bin froh, dass ich nicht so viel nachdenken muss. Ich komme ja sowieso ganz schnell an meine Grenzen. Habe ja sowieso nicht richtig den Überblick. Gott kümmert sich. Ich darf spielen. Darf spielen mit dem Wind und den Bäumen, die er gemacht hat.

Ich muss los. Gleich piept der Wecker und dann hole ich einen Kuchen mit Extra-Schokolade aus dem Ofen.

Eine kleine Runde

„Wollen wir echt noch rausgehen? Ist schon ziemlich spät.“
Wir betrachten gemeinsam den digitalen Wecker, der 23.12 anzeigt.
„Vielleicht noch ne kleine Runde oder so.“

Kurz darauf ziehen wir die Haustür hinter uns zu und laufen los. Industriegebiete und Wälder um Mitternacht – kein Problem, wenn man einen Mann dabei hat. Ich fühle mich sicher. Mit jeden Schritt lasse ich ein bisschen Schreibtisch, Uni, Stress hinter mir. Mit jedem Schritt lockern meine Gedanken etwas mehr auf. Mit jedem Schritt wird diese Gegend ein bisschen mehr mein Zuhause.

Sieben Kilometer und unzählige Worte später. Wir sind auf dem Rückweg. „Was war für dich am schwersten daran, umzuziehen und ein Studium anzufangen?“, fragt er. Ich habe ihn kurz vorher dasselbe gefragt. Jetzt bin ich dran mit antworten. Ich muss überlegen. Die letzten Monate waren viel. Sie waren aufreibend und ein einziges Durchhalten. Sie waren schmerzhaft.

„So viel zu verlieren“, sage ich. Ich erahne sein Nicken in der Dunkelheit. Er kennt meine Geschichte, war die letzten Wochen nah dran.

„Immer, wenn man was verliert, ist da auch ne Chance drin. Was Neues kann kommen.“

Mir wird der Moment bewusst, den ich gerade erlebe. Wir haben beide keine Uhr und kein Handy dabei, aber es ist sicher irgendwann nach eins. Wir laufen durch die Wiesen zurück in Richtung Stadt. Eine Autobahnbrücke erhebt sich weit über uns. Die Dunkelheit umgibt uns wie ein schützender Mantel. Es ist kalt, aber der Wind bläst meinen Kopf frei. Ich muss lächeln.

„Ja. Inzwischen sehe ich das auch. Ich bin froh, hier zu sein.“

Am Ende sind es 10 Kilometer, bis wir wieder bei ihm vor der Haustür stehen. Er ist völlig platt. Meine Füße tun weh. „So viel zu nur eine kleine Runde“, kommentiert er grinsend.

„Danke“, sage ich.

Langsame Schritte

Meine Schritte sind langsam. Ich gehe furchtbar gern langsam. Allerdings nur, wenn es schön ist. In Orten und Städten voller Menschen und künstlicher Strukturen gehe ich schnell, aber hier gehe ich langsam.

Um mich herum ist Gras. Ich kann mit meinen Fingern hindurch streichen, ohne mich zu bücken, so hoch ist es. Da sind Blumen und Kräuter und Disteln, und dann ist da noch der Himmel. Und da bin ich, und ich fühle mich, als wäre ich ein junges Tier, ein Fuchs oder ein Fohlen oder ein Reh und noch etwas ganz anderes. Ich bin frei und jung und stark und wild und verspielt und hier und jetzt und glücklich und ach – ich bin Teil von dem allem hier, kein Fremdkörper in der Natur. Ich fühle mich, als wäre ich nach Hause gekommen. Meine Lunge ist voll mit frischer Luft, und es riecht nach Ruhe und nach kleinen Geheimnissen. Es riecht nach Streunen. In bin so herrlich unbeobachtet. Keiner weiß, dass ich hier bin. Keiner sieht, was ich tue, und mein Gehirn ist befreit von Gedanken über mein Auftreten und dem Ich in den Augen anderer.

Ich renne in bisschen, und dann gehe ich wieder ganz langsam. Ich bleibe stehen, um mir eine Blume anzusehen, und wähle meinen Weg nach der Höhe der Gräser. Schließlich komme ich am Waldrand an. Da steht er, mein Hochsitz. Alt und halb kaputt, wenige Meter hinter der Wiese, mit einem wundervollen Ausblick. Ich steige über den umgekippten Stacheldrahtzaun, bahne mir meinen Weg durch Brenneseln und Gestrüpp und kletter die rostige Leiter hoch. Ich klappe das eine Brett um, das noch von der Bodenklappe übrig geblieben ist, und setze mich darauf. Atme durch.

Und dann muss ich weinen. Auf einmal kommen Tränen hoch, immer mehr und immer mehr. Weil ich diese Welt manchmal nicht ertragen kann. Weil sie zu schwer für mich ist. Ich kann gar nicht mehr aufhören, und dabei weiß ich gar nicht so wirklich, was jetzt gerade so schlimm ist. Der Wind streicht durch meine Haare und macht sie durcheinander. Alles in mir tut weh. Ich kann nicht mehr. Auf einmal hab ich vergessen, wo mein Platz ist. Ich fühle mich eingesperrt. Man, ich bin doch wild! Ich will doch raus, ich brauch mehr Zeit, was soll denn das. Ich finde die Wunden nicht, die so wehtun. Ich verstehe mich nicht. Woher kommt das auf einmal? Kann nicht mehr, kann einfach nicht mehr.

Irgendwann, und ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, habe ich mich wieder beruhigt. Ich trockne mein Gesicht ab und warte, bis mein Atem nicht mehr so zittrig ist. Dann mache ich mich wieder auf den Weg zurück – was bleibt mir auch anderes übrig? Ein Fuß vor den anderen. Meine Schritte sind langsam.

10 Fakten über mich

1) Ich bin nur Rechtshänder, weil ich mir mit vier Jahren das linke Handgelenk gebrochen habe. Vorher habe ich meine Hände gleichberechtigt verwendet.

2) Ich bin ein Mädchen und hasse pink. Jap, und ich bin stolz drauf.

3) Ich kaufe keine Bücher, ich adoptiere sie. Ich habe nicht viele Bücher, aber die, die ich habe, werden mehrfach gelesen und liebevoll gepflegt. Sie werden auch nur sehr ungern verliehen. Ich habe irgendwie Angst, dass einem meiner Schäfchen etwas zustoßen könnte.

4) Das schlimmste, was mir je serviert wurde, ist Linsensuppe. Ich HASSE Linsensuppe. Legendär ist ein Zitat von mir von einer wirklich anstrengenden und ätzenden Fahrradtour: „Das ist schlimmer als drei Teller Linsensuppe.“

5) Meine Referate sind besser, wenn ich mich kaum darauf vorbereite. Erklär mir das mal einer.

6) Ich finde Schuhe irgendwie unnatürlich. Und hohe Schuhe erst recht. Wenn ich nicht so eine Frostbeule wäre, würde ich ständig barfuß rumlaufen.

7) Die Sportart, die mir bis jetzt am meisten zusagt, ist windsurfen. Dafür wohne ich nur leider am falschen Ort.

8) Egal, ob in der Schule, in der Kirche oder sonstwo: Ich bin immer die Jüngste im Freundeskreis. Das ist keine Absicht! Naja, oder ich bin mit Abstand die Älteste, aber das ist ja was anderes.

9) Ich bin immun gegen Motivationsversuche. Entweder bin ich motiviert oder nicht. Daran kann kein Mensch etwas ändern. Versuchs doch!

10) Wenn ich draußen mit jemandem durch die Natur gehe, fange ich manchmal an, einfach so Geschichten zu erzählen über das, was ich sehe. Meine Mama und mein großer Bruder können da ein Lied von singen. Und die sind gar nicht mal so schlecht! Also mein Bruder meinte irgendwann, das wäre Roman-tauglich.

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Episode  2  3  4  5

Bäume klettern

Laut meinem großen Bruder wird man nie zu alt, um auf Bäume zu klettern. Gut, er hat das in Bezug auf männliche Wesen gesagt, aber ich finde, das gilt auch für Frauen und Mädchen – zumindest für die wirklich tollen. Und weil das so ist, bin ich heute auf einen Baum geklettert. Der Baum stand in einem Mini-Wäldchen, dass ich bis vorher nicht einmal kannte, obwohl es gerade mal eine halbe Stunde von zu Hause entfernt ist. Vielleicht war es eine Buche, wahrscheinlich aber irgendetwas anderes – schwer zu sagen, wenn keine Blätter an den Bäumen sind. Ja, und da war ich drauf.

Ich saß also in der frühen Abendsonne auf einem sehr soliden Ast und hielt mich an einem eher dünnen Ast fest, als mir der Gedanke kam, mich an dem dünnen Ast festzuhalten und herunterzuspringen, sodass der Ast sich bis zum Boden biegt und mich absetzt. So die Theorie. In der Praxis war der Boden ziemlich weit weg. Außerdem waren der dicke und der dünne Ast fast auf einer Höhe, was das ganze nicht unbedingt erleichtert hat. Aber ich wollte es machen, unbedingt.

Herausforderungen anzunehmen wird schwieriger, wenn man dabei alleine ist, weil die Gedanken dann die ganze Zeit auf einen einquatschen können und keiner sie unterbricht. Meine Gedanken haben mir die ganze Zeit erzählt, wie weit der Boden weg ist. „Und wenn der Ast bricht? Oder biegt sich der Ast fast gar nicht und du hängst in der Luft und musst dich den Rest frei fallen lassen, und das wäre wirklich noch ein ganzes Stück. Lass es einfach. Es sieht dich doch eh keiner, es müsste dir nicht peinlich sein. Und wenn du dich verletzt, kommst du nicht wieder nach Hause.“ „Ich will aber“, habe ich geantwortet.

Und habe es gemacht. Meine Hand ist ein bisschen aufgeschürft, weil – ich habe gar nicht mitgekriegt, warum. Vielleicht war das auch schon vorher. Jedenfalls hat es funktioniert. Der Ast hat mich heruntergelassen und ich bin gut auf der weichen Erde angekommen.

Es war toll. Man, hat das gut getan, sich mal wieder etwas zu trauen, sich zu überwinden und sich zu spüren. Ja, das ist vielleicht das Beste daran gewesen: Zu spüren, dass ich lebe.