Ode an das langweilige Leben

Dies ist meine Ode, meine Hymne, mein Lobgesang auf all das wunderbar Langweilige im Leben.

Meine Ode daran, nicht frisch verliebt zu sein. Oh, wie kann man es nur genießen, ein vernebeltes Hirn und eine nervöse Seele zu haben? Wie kann man es nur mögen, wenn ein Mensch, dem man doch noch gar nicht so vertraut ist, solche Macht über einen hat? Wie viel schöner ist es doch, im Geist frei und mit der Seele präsent zu sein und die kleinen Dinge im Leben genießen zu können. Es ist schön, sich tagsüber konzentrieren und nachts schlafen zu können. Für all dies gebe ich die knisternde Spannung, die Schmetterlinge im Bauch und die magischen Momente liebend gerne auf. Zu anstrengend, zu unsicher, zu wenig Kontrolle darüber. Zu wenig Energie übrig für alles andere.

Meine Ode daran, zu Hause zu sein und einfach mal nicht zu reisen. Wissen, wo alles ist. Alles da haben, was man braucht. Sich zurechtfinden. Vertraut sein mit seiner Umgebung. Wege parat haben, mit denen man auftretende Probleme lösen kann. Sprache und Umgangsformen beherrschen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Die besten Läden, Restaurants und Spazierwege kennen. Seine Leute in der Nähe haben. In selbst eingerichteten vier Wänden sein. Das Klima kennen. Wissen, was einem schmeckt. Es ist so schön, wenn die Dinge so funktionieren, wie ich es kenne und vorhersehen kann. Das macht es locker, macht es leicht.

Meine Ode an die Routine. Oh, Routine und Alltag ist alles für einen Menschen wie mich. Routine hält mich im Gleichgewicht. Routine sorgt dafür, dass ich genug esse, genug schlafe, mich genug bewege und nicht stinke. Routine macht, dass ich aus Löchern wieder rauskomme und in andere gar nicht erst falle. Routine, das bedeutet, dass ich Pläne machen kann, die funktionieren. Routine und Alltag heißt, dass ich tun kann, ohne allzu viel nachzudenken, und oh, was für eine wundervolle Freiheit gibt das meinen Gedanken! Dann bin ich kreativ, empathisch, bei mir selbst. Dann habe ich Kraft für all die Dinge, für die ich Kraft haben will.

Meine Ode daran, beruflich einen geraden Weg zu gehen. Vielleicht manchmal langsam oder holpernd, aber in eine bestimmte Richtung unterwegs zu sein. Wie wunderbar ist es, dass ich mein Ziel abstecken kann und im Großen und Ganzen weiß, wo ich hinwill! Nein, nichts zieht mich in die Zeit zurück, wo ich mir unsicher war, was es werden soll. Wo gefühlt alles möglich war und umschauen und ausprobieren dran war. Ich will keine tausend Möglichkeiten. Ich will eine einzige, die mir gefällt.

Meine Ode an dieselben fünf Freunde, die ich zu meinen engen Vertrauten zähle, und an die weiteren zehn, mit denen ich ab und zu Kontakt habe. Wie schön, Menschen zu haben, denen ich nicht mehr viel erklären muss, sondern die einfach Bescheid wissen. Bei denen ich weiß, wie sie ticken, und die wissen, wie ich ticke. Mit denen ich schon lange bestimmte Themen habe oder bestimmte Interessen teile. Die vertraut sind. Denen ich nichts beweisen muss. Die ich nicht mehr schocken kann. Die mich bereits so angenommen haben, wie ich bin.

Im Großen und Ganzen ist dies meine Ode an die Vertrautheit. An die Sicherheit. An das Alte.

Und daran, so vieles nicht zu müssen. Mich nicht auf etwas Neues einlassen zu müssen. Keine Veränderung durchmachen zu müssen. Mich mancher Herausforderung nicht stellen zu müssen. Keine Entscheidungen treffen zu müssen. Keine Abenteuer erleben zu müssen.

Oh, es ist so wundervoll, gerade mal keine Abenteuer erleben zu müssen!

Dies ist meine Ode an das langweilige Leben. Wie gut, dass es das langweilige Leben gibt. Es gibt meiner Seele Boden, auf dem sie gedeihen kann. Es verwurzelt mein Sein und gibt mir Halt. Es erdet mich und gibt meinem Inneren Freiheit. Es bringt mich nach all den Abenteuern wieder ins Gleichgewicht. Ich liebe das langweilige Leben. Hoffentlich darf ich hier ein bisschen bleiben.

Nein, ich will nicht reisen

„Und was machst du jetzt mit deiner freien Zeit? Willst du reisen? Ich würde reisen!“

Der begeisterte, erwartungsvolle Blick in ihren Augen verwirrt mich etwas.

„Nee“, sage ich, unfähig, das gerade auszuführen. Reisen, das war so sehr keine Option für dieses Jahr, dass ich nicht einmal darüber nachgedacht habe.

„Warum nicht?“

Tja. Warum nicht? Weil ich ehrlich gesagt froh bin, wenn ich einfach mal zu Hause sein kann. Weil ich zu Hause liebe. Zu Hause sein und nur zu lernen und zu arbeiten, das ist etwas ganz anderes als zu Hause sein und frei zu haben. Und das hatte ich so lang nicht mehr! Warum sollte ich jetzt wegfahren und das verpassen wollen?

Wieso wird eigentlich von so vielen Menschen davon ausgegangen, dass Reisen für jedermann ist? Wieso ist das momentan so eine unverhältnismäßig populäre Leidenschaft, dass Menschen mir gegenüber davon ausgehen, dass ich sie teile? Dass ich begründen muss, wenn ich sie nicht teile? Das muss bei so ziemlich allen anderen Hobbys doch auch niemand.

Aber hey, ich sag euch, warum ich diese Leidenschaft für´s Reisen nicht teile.

Reisen, das bedeutet, an einem Ort zu sein, den ich nicht kenne. Das wiederum bedeutet, dass ich mich ständig zurecht finden muss. Die kleinsten Fragen – wie funktioniert hier der öffentliche Nahverkehr, ich brauche eine Apotheke, ist es hier kulturell akzeptabel wenn ich im Restaurant um Salz bitte – benötigen Zeit, Energie, Nerven. Klar, das ist auch das Abenteuer daran, und ganz selten finde ich das auch mal cool.  Aber hungrig zu sein, weil das fremde Essen, dass ich mir entweder aus Neugier oder mangels Alternativen besorgt habe, echt eklig schmeckt, ist beschissen. Und wie schön ist es bitte, genau zu wissen, wo es die beste Pizza gibt, den kürzesten Weg von dort zur nächsten Apotheke zu kennen und nicht mein Handy zu brauchen, um zu wissen, wann der nächste Bus fährt? Für mich bedeutet das ganz viel Freiheit. Diese Freiheit kann ich nutzen für die Dinge, die mir wirklich wichtig sind. Ich kann zur Ruhe kommen, malen, schreiben, lange Wandertouren machen… und mich danach in mein eigenes Bett kuscheln.

Und jaja, neue Kulturen kennen lernen und so. Aber wisst ihr eigentlich, dass ihr das auch nicht tut? Als ich acht Monate in Malaysia gewohnt habe, habe ich quasi nur mit Einheimischen zu tun gehabt und deren Alltag und Lebensweise mitbekommen. Und trotzdem würde ich sagen, ich kenne die Kultur dort nicht wirklich. Die vollen acht Monate lang waren ein Kreislauf von „Hä, verstehe ich nicht“ zu „Ah, jetzt hab ich´s!“ und wieder zurück zu „Nee, hab´s doch noch nicht verstanden“. Zudem könnte ich dreißig Jahre dort leben und wüsste immer noch nicht, wie Malaysia ist, wenn man zufällig keine rothaarige, weiße, im Vergleich mit den Asiaten große Frau ist, die die Welt durch ihre deutsche Brille sieht. Also ein Urlaub? Rumreisen? Und dabei Kulturen kennen lernen? Vergiss es. Was du danach kennst, ist eine Disney-Touristen-Version. Das ist wie der eine Malaysier, der zu mir meinte: „Germany? Yeah, I’ve been to Germany! You have Autobahn and Oktoberfest! Your beer is cheaper than water. Your cars are so fast! And it’s like a fridge outside. I love your country!“ Fühlt man sich da als Deutsche nicht komplett in seiner Kultur erfasst und verstanden?

Zugegeben, was mich interessiert, sind die Sportarten, die ich zu Hause nicht so tun kann: Segeln, Tauchen, Surfen, Bergsteigen und so weiter. Aber mich an meinem Maltisch austoben, auf meinem Klavier spielen und in meiner eigenen Küche kochen eben auch. Was mich auch reizt, sind andere Landschaften und Umgebungen. Meine Zeit in Südostasien hat mich jedoch gelehrt, dass ich dafür nicht weit fahren muss. Tropenstrände habe ich kennengelernt als pisswarmes Badewannenwasser mit einem tödlichen Laser als Sonne und mit konstantem Ärger mit respektlosen, hinterhältigen Affen. Dschungel sieht aus wie ein hübscher, alter, deutscher Wald, der irgendwie höher gewachsen ist und auf den dann ein riesiges Monster grünes Dickicht draufgekotzt hat. Und ja, ich konnte das auch wertschätzen und hatte da auch gute Zeiten, aber dafür steige ich nicht mehr in ein Flugzeug. Nordsee, Alpen und Vogelsberg for the win!

Also nein, ich will nicht reisen, nur um zu reisen. Meinen Bruder in Cambodia besuchen, das war cool. Mit meinem Mann einen Roadtrip an die Nordsee machen, immer wieder gerne. Mit Freunden in das Ferienhaus ihrer Familie an die felsige Küste Spaniens fahren und dort wandern gehen – hätte ich gemacht, wäre nicht so ein gewisse Krankheit dazwischen gekommen. Aber dazwischen bin ich leidenschaftlich und von ganzem Herzen gerne zu Hause, ohne, dass es mich irgendwo anders hinzieht. Für mich ist Reisen wie Chilli – ohne schmeckt das Essen gut, mit besser, und wenn es zu viel wird, ist das Essen ungenießbar. Und es ist schnell zu viel.

An alle, die das anders sehen: Was genau ist es am Reisen, das ihr so liebt? Was gibt euch das?

Freihändig

Auf dem Weg vom Arzt im Vorort zum Sportladen in der Stadt kaufe ich mir beim Bäcker eine Käse- und eine Laugenstange. Ich suche mir eine Bank und frühstücke in der Vormittagssonne. Es ist eine schöne Bank – hinter mir eine Weide, vor mir ein Feld und dahinter die Stadt. Hinter der Stadt die zwei Burgen und der Fernsehturm. „Guck mal, die Burgen“, ist ein Satz, den wohl jeder schon gehört hat, der hier mit mir spazieren war. Der Anblick dieser Burgen ist Heimat für mich geworden.

Ich habe Zeit. Endlich, endlich ist da nichts mehr, das ständig an meinen Gedanken und an meinen Gefühlen nagt. Nirgends eine Dringlichkeit, eine Not, ein Konflikt. Stattdessen Frieden. Ich bin frei. Innen drin und außen rum. Meine Seele kann auf Wanderschaft gehen. Sie geht auf Wanderschaft und fängt an zu spielen. Wenn ich frei bin, dann spiele ich. Mit dem Wind und den Bäumen und mit mir. Ich blödel rum und lache über mich selbst. Hoffentlich beobachtet mich keiner, denke ich. Und lache, weil mir das irgendwie auch egal wäre.

Ich fahre freihändig Fahrrad und strecke die Arme so hoch in den Himmel, wie ich kann. Zu Hause tanze ich zu Green Day durch die Küche und backe einen Kuchen, einfach so und nur für mich. Ich mache extra viel Schokolade rein und lecke die Schüssel aus.

Und zwischendurch: Erinnerungen. An diesen Sommer. Hochzeiten feiern mit alten Freunden. Neue Leidenschaft fürs wohlbekannte Sommerlager. Wie wunderbar es ist, versöhnt zu sein. Welcher Friede darin liegt, alles Gott zu geben und sich immer nur den nächsten kleinen Schritt von ihm leiten zu lassen. Wie gut, dass es nicht an mir hängt, alle Probleme zu lösen und Schwierigkeiten zu überwinden. Wie gut, dass mein Versagen kein Problem ist. Wie gut, dass Gott und Menschen mir vergeben. Wie gut, dass Gott alles in seine Hand nimmt.

Gott hat alles im Griff.
Und ich? Ich bin froh, dass ich nicht so viel nachdenken muss. Ich komme ja sowieso ganz schnell an meine Grenzen. Habe ja sowieso nicht richtig den Überblick. Gott kümmert sich. Ich darf spielen. Darf spielen mit dem Wind und den Bäumen, die er gemacht hat.

Ich muss los. Gleich piept der Wecker und dann hole ich einen Kuchen mit Extra-Schokolade aus dem Ofen.

Die Brücken hinter mir

Ich streife durch die Heimat, durch heimatliche Orte, Orte voller Bedeutung und Erinnerung.

Irgendwie ist da so ein Loch.

Da ist so ein Loch, wo Heimat hingehört.

Ein bisschen schon immer. So etwas passiert, wenn man seine gesamte Kindheit und Teenagerjahre in einer so genannten „Übergangslösung“ wohnt. Trotzdem war es nun mal immer dasselbe Dorf und es war auch immer dieselbe Stadt, in die ich für Schule, Kirche, alles gefahren bin. Irgendwie ist das trotzdem Heimat. Und durch diese Heimat streife ich

und es tut weh.

All das, was kaputt gegangen ist, tut weh.

So viele Freunde, die nun weg sind, ob Kontaktabbruch, weggezogen oder tot. Die Kirche, die ebenfalls ein Zuhause war und nun zerrüttet ist und nichts übrig ist als etwas, zu dem ich kaum noch Bezug finden kann. Meine Familie, in der sich so viel verändert hat, manches gut, manches schlecht, vieles herausfordernd. Große Bauunternehmen verändern das äußere Erscheinungsbild stetig. Meine Heimat wird mehr und mehr etwas, was – wenn überhaupt – nur noch in meiner Erinnerung existieren kann.

Ich gehe durch die Straßen und nehme Abschied, Ort für Ort, von allem, was dort passiert ist, was ich damit verbinde, wer dort einmal war oder vielleicht noch ist. Ich nehme Abschied und bin traurig. Traurig sein ist wichtig. Ich bin oft zu wenig traurig. Aber jetzt bin ich traurig. Jetzt ist okay, ganz in Ruhe zu spüren, wie sehr es weh tut.

Ich werde noch ein wenig hier bleiben. Hier, wo es weh tut. Es ist gut, hier zu sein. Und dann, bald schon,

geht es weiter.

Laternenlichtleuchten

Zu Hause.

Das ist ein Ort, der ist zu Hause.

Diese neue Stadt hier, die ist jetzt zu Hause. Sie fühlt sich neu und vertraut an und wie zu Hause. Manchmal auch nicht. Da will ich dann zurück, zurück zu meinem richtigen Zuhause. Nur, dass es das nicht mehr gibt. Das, was sich für mich mal nach Zuhause angefühlt hat, fühlt sich nämlich jetzt doch ganz schön fremd an.

Vielleicht, weil ich mal ein Puzzlestück in diesem Puzzle war, es aber dann verlassen habe. Jetzt habe ich mich verändert. Meine Familie hat sich verändert. Ich passe nicht mehr hinein. Etwas ist vertraut, aber es ist eben auch anders. In mein Elternhaus, meine Familie kommen, heißt, nicht mehr so ganz ich selbst sein zu können. Und zu Hause, da darf man richtig man selbst sein.

Wo ist denn dann jetzt mein Zuhause? Bin ich heimatlos?

Ich liebe Laternen. Ich meine nicht Straßenlaternen. Ich meine Metallkäfige mit Glasscheiben, in denen Lichter brennen. Die man umher tragen kann. Die gemütlich aussehen, ein bisschen hell in die Nacht bringen und bei Wind nicht ausgehen.

Laternen sehen heimelig aus. Heimelig, das heißt: Wie Heimat. Sie sehen wie zu Hause aus. Und das, obwohl man zu Hause eigentlich nie Laternen braucht. Laternen, die hat man dabei, wenn man woanders ist. Nicht zu Hause. Und dort machen sie es hell.

Vielleicht bin ich heimatlos. Und vielleicht ist mein Herz eine Laterne.

Das klingt dämlich.

Vielleicht ist mein Herz eine Laterne und ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich weiß nämlich, dass es ein Zuhause gibt. Eine Zuhause, wo ich sein kann, wie ich bin. Wo ich einen Vater habe. Dieser Vater hat mir gesagt, dass es normal ist, dass ich mich auf dieser Erde irgendwie fremd fühle. Und er hat mir gesagt, dass er mir in mein Herz etwas hineingelegt hat, das man vielleicht am Besten als Ahnung beschreiben könnte: Eine Ahnung davon, wie sich zu Hause wirklich anfühlt. Eine Ahnung davon, was es heißt, ganz ich selbst zu sein. Eine Ahnung davon, was es heißt, wirklich einen Vater zu haben.

Er hat mir auch erklärt, warum er mir diese Ahnung gegeben hat: Damit ich Hoffnung habe.

Mein Herz leuchtet zuversichtlich sein Laternenlichtleuchten und es wird ein bisschen hell. Was scheint, ist diese Ahnung, ist diese Hoffnung. Nein, ich bin nicht heimatlos. Ich bin unterwegs.

Heimatlaute

Obwohl ich nie ein Kind der Landeskirche war, habe ich das Leuten der Glocken immer geliebt. Kirchenglocken haben eine wunderbar warme Feierlichkeit. Genauso wie alte Kirchengebäude. Ich habe eine heimliche Lieblingskirche, eine ganz kleine, mehr eine Kapelle. Unscheinbar versteckt sie sich hinter einer viel Mächtigeren. Wenn ich vom Schwimmen zurück gekommen bin, dann habe ich sie oft besucht. Immer gehofft, dass keine Touristen da sind – ab und zu verirren sie sich dorthin. Aber selbst wenn: Sobald klar wird, dass ich öfters dort bin und nicht nur „mal gucke“, werde ich schnell allein gelassen. Dort bin ich dann still geworden. In der machtvollen Kirche nebenan leuten die Glocken.

Ein anderes Geräusch, das ich liebe, ist das Plätschern von Wasser beim Einschenken. Ein ruhiges Zimmer, ein Glas, eine Flasche. So ein schlichtes, unscheinbares Geräusch, doch für mich liegt so viel Heimat und Ruhe darin, so viel Pause und Genuss und Musik. In diesem Geräusch klingt der Küchentisch und der Blick aus dem Fenster mit, das Sitzen auf der Arbeitsplatte und Beobachten der Straße, das Knarren oder eher Scheppern der Küchentür, das Gefühl des weichen und wertvollen Schafwollteppichs unter den Socken, das leicht unregelmäßige Ticken unserer Küchenuhr, deren Zeiger nach unten immer etwas hastet und nach oben hin so kämpft, dass man immer glaubt, er schafft es nicht mehr rechtzeitig. So oft bin ich, wenn ich nach Hause gekommen bin, zuerst in die Küche gegangen und habe ein Glas Wasser getrunken und habe all das gesehen, gespürt, gehört.

Ich vermisse das Brummen meiner kleinen Schwester, wenn man in ihr Zimmer kommt und sie sich gerade in ihrer eigenen inneren Welt verkrochen hat, auf dem Teppich vor dem Fenster, halb verborgen hinter dem Schreibtisch, neben sich den alten CD-Player oder ein Buch, ein paar Papierchen von Süßigkeiten, Kissen. Ich vermisse ihr Brummen, wenn man sie ärgert oder sie müde ist oder nicht zugeben will, dass etwas eigentlich lustig ist. Ich weiß gar nicht, ob Brummern wirklich das richtige Wort ist. Vielleicht eher Knarren. Oder Grummeln. Ein Geräusch, das so liebenswert freundlich wie entnervt müde sein kann.

Weckerpiepen, die effektiven Schritte meines Vaters am Morgen, die mir immer zu schnell für diese Stunde sind. Der Wasserkocher blubbert, das Rauschen des Wassers in den Rohren, jemand duscht. Mama, wie warm wird es? Mama, wo ist mein grünes T-Shirt? Mama, darf ich deine schwarzen Stiefel? Die Schritte meiner Mutter, wenn sie die Treppe hochgeht, das Trampeln meines Bruders, das Knallen der Tür. Die Klingel, und keiner geht hin. Das Telefon, und keiner geht hin, und dann doch wieder Mama. Das Knallen der Tür, und Papa ermahnt, und irgendwer hört nicht wirklich zu. Die Vibration der Haustür, der Schlüssel in der Wohnungstür, Rucksack in die Ecke. Die Kirchengemeinde nebenan, Musik, Absatzschuhe in schnellem Schritt. Mikrowellenpiepen, und keinen stört es außer mich. Klavier spielen, und alle stört es außer mich. Mein Bruder lacht. Teamspeak. Meine Schwester übt Trompete. Toilettenspülung, Dusche, das Knallen der Tür, wieder Papa nicht zugehört. Lichtschalter, Heizungsrauschen. Die Straße vor dem Haus, irgendwelche Männer lachen irgendwo. Immer noch Licht unter der Tür meines Bruders, und ich klopfe so leise, dass er er sowieso nicht hören kann, komme herein und lege mich zwischen all sein Chaos aufs Bett. Lüftest du wieder? Ja, ich lüfte.

Die Stimme meine Heimat – Glockenleuten, Wasser in einem Glas, die Geräusche des Hauses, die Stimmen meiner Familie, meiner Freunde. Alles eine Stimme, eines alles Zusammen. Die Stimme einer Zeit, eines Gefühls, eines Ortes. Zuhause. Eine Stimme, die ich vermisse, wie ein Kind die Stimme seiner Mutter, wenn sie zu lange getrennt sind.

Meine Seele will sie wieder hören, die Stimme. Meine Stimme klingt in der Ferne so fremd. Sie sprechen nicht meine Sprache, kennen die Sprache meiner Heimat nicht. Meine Sprache ist eine andere.

Mein Zimmer, meine Heimat

„Was machen wir eigentlich mit Sinas Zimmer, wenn sie weg ist?“, stellt mein Bruder beim Mittagessen in den Raum.

Mein Zimmer.

Mein Zimmer, mein allersicherster, allergeschütztester Raum. Mein Reich, wo ich einfach machen kann, was ich will. Wo ich sein darf, wie ich will. Wo ich Menschen ganz nach Belieben reinlassen und rausschicken kann. Den Ort, den ich ganz genau so gestalten kann, wie ich ihn am allerliebsten mag. Wo ich mich entspanne und bete und Zeit vergeude und Klavier spiele und lese und schlafe und arbeite und weine und schreibe. Der Ort, an den ich immer und immer wieder zurück kehre, zurück kommen kann. Hier gehöre ich hin. Diesen Ort vermisse ich, wenn ich länger weg bin. Auf diesen Ort freue ich mich, wenn ich nach Hause komme. Meine Oase, meine Basis, mein Stützpunkt für mein ganzes Leben. Schon fast ein Teil von mir. Mein Zimmer.

Ich weiß, dass den meisten anderen Menschen so ein räumlicher, ganz eigener Rückzugsort bei weitem nicht so wichtig ist wie mir. Wenn ich auf irgendeiner Freizeit bin, ist es mir total wichtig, schnell meinen Schlafplatz zu kennen und kurz eingerichtet zu haben. Erst dann habe ich Kraft für alles andere, denn dann weiß ich: Hierhin komme ich zurück. Hier habe ich meinen Platz.

Und mein Zimmer, mein Zimmer ist Basis und Krönung von alledem. Ich habe dieses Zimmer seit der ersten Klasse. Ich brauche es. Ich muss doch wissen, dass es noch da ist und ich wieder dahin kommen kann. Es ist der eine Ort, der bleibt.

Meine Familie beginnt derweil um das Zimmer zu feilschen. Mein Bruder will vielleicht doch lieber aus seinem Wandverschlag raus und endlich mal ein Zimmer haben, in das auch sein Kleiderschrank passt. Mein Vater will weg von dem Zimmer mit dem Straßenlärm und der langen Wand zum Flur. Meine Schwester überlegt, ob mein Zimmer vielleicht doch größer ist als ihres, will aber doch in ihrem bleiben. Das Klavier soll zurück ins Wohnzimmer wie früher. Das kann keiner gebrauchen.

Ich atme durch. Eigentlich, so ganz rational gesehen, dürfte mir das egal sein. Ich bin nicht einmal im Land – was sollte es mich da stören, dass mein Zimmer anders verwendet wird? Ich bin doch eh nicht da, werde nicht einmal zu Besuch kommen können. Frühstens in einem Jahr könnte ich es wieder brauchen, und selbst dann nur für ein paar Wochen oder Monate. Wie blödsinnig wäre das denn, mein Zimmer so lange einfach brach liegen zu lassen?

Trotzdem. Etwas in mir schmerzt und bricht bei dem Gedanken an den Verlust meines Zimmers. Ich will das nicht. Es soll bleiben.

Und wie das manchmal so ist, macht es auf einmal wie so ein kleines ‚Klick‘. Es ist, als würde man über eine Grenze kommen und auf neuem Boden stehen.

Es ruft mich raus in neue Zeiten, neue Welten, und da brauche ich dieses Versteck nicht mehr. Ich kann es loslassen, denn es wird alles neu. Mein Zimmer war und ist derzeit noch meine äußere und innere Heimat, doch ich bin auf dem Weg zu neuen Heimaten, neuen Welten, neuen Abenteuern. Irgendwo macht es auch Spaß, all das Alte freimütig aufzugeben. Es lässt mich frei fühlen, mein Zimmer loszulassen. Etwas reizvolles liegt darin. Wenn es diese Basis nicht mehr gibt, brauche ich auch nicht zu ihr zurück kommen. Dann kann ich auch gleich weit, weit weg gehen und alles anders machen.

„Naja, das schauen wir dann, wenn es soweit ist“, schließt meine Mutter die Debatte um das Zimmer, indem ich derzeit noch bin. Und es ist okay. Ihr dürft es haben. Ich gebe es frei.