Fußballfieber Edition 60+

„Ich habe in letzter Zeit Fußball für mich entdeckt“, vertraut mir Oma mit wichtiger Stimme an.
„Fußball?“, wiederhole ich zum Amüsement interessiert.
„Ja, Fußball. Ich finde, es ist gut zur Unterhaltung. Da quatscht mir keiner son Blödsinn ins Ohr.“
„Naja, da quatscht schon einer Blödsinn, und zwar nicht zu wenig…“, gebe ich zu bedenken.
„Na, aber den kann man ja ausschalten!“, triumphiert sie.
Ausgefuchst, meine Oma.

„Nein, und schon wieder daneben! Ohh“, höre ich kurz darauf eine mitgerissene Stimme aus dem Wohnzimmer, während ich in der Küche noch das Geschirr vom Abendessen abtrockne. Mir das Lachen verkneifend linse ich aus der Küchentür. Gerade tritt mein Opa hinzu und fragt meine Oma: „Wer denn? Der HSV?“

„Na die Roten!“ Pause. Leiser: „Wer war das jetzt nochmal?“ Pause. Dann wieder voll drin: „Aber sie hatten drei gute Chancen und alle vorbei!“

Guter Tee, viele Straßenkatzen und der Lausbub-Lehrer 2.0

Auch wenn eine Erkältung mit starken Halsschmerzen ansonsten ziemlich ätzend ist, genieße ich die Gelegenheit, meinen weichen, hellgrünen Lieblingsschal zu tragen. In ihn eingekuschelt gieße ich mir Tee aus meiner Thermoskanne ein. Ah, das tut gut. Danke, Mama, dass du den heute Morgen noch gemacht hast.

„Prost!“, ertönt es aus Richtung Tafel. Ich schaue hinter meiner Tasse (bzw. meinem Thermoskannendeckel) hervor. Mein Mathelehrer. Er will mir offensichtlich ins Gedächnis rufen, dass man in Fachräumen nicht essen und trinken darf.

„Danke“, antworte ich und nehme noch einen Schluck. Und noch einen.

Mein Mathelehrer hat mich fixiert. Noch ein Schlückchen. Ah, wie lecker dieser Tee ist. Schwarzer Tee mit viel Honig und ein wenig Orangensaft. Müsst ihr auch mal machen. Voll gut.

„Haben Sie den Wink nicht verstanden?“ Der Mathelehrer grinst in sich hinein. Woran der schon wieder so viel Spaß hat, versteht außer ihm wohl keiner. Ich nippe wieder an der Tasse.

„Man darf in Fachräumen nicht essen und trinken“, antworte ich vorbildlich, mummel mich weiter in meinen Schal hinein und gönne mir noch ein wenig Tee.

Mein Mathelehrer scheint das sehr interessant zu finden, denn sein Blick ruht noch immer auf mir. Er zieht eine Augenbraue hoch. Ich schwanke bei meiner Interpretation dieses Gesichtsausdruckes zwischen spöttisch, amüsiert und leicht ärgerlich. Wie war noch dieses eine Wort, mit dem man sein typisches Grinsen so gut beschreiben kann? Ach ja, süffisant. Duden definiert das so: „ein Gefühl von [geistiger] Überlegenheit genüsslich zur Schau tragend, selbstgefällig, spöttisch-überheblich“. Das trifft seinen jetzigen Gesichtsausdruck auch gar nicht so schlecht, finde ich. Darauf ein Schluck Tee, würde ich sagen.

Nach einigen weiteren Sekunden komme ich zu dem Schluss, dass es vielleicht doch ganz klug wäre, auf seinen Gesichtsausdruck irgendetwas zu antworten.

„Ich habe Halsschmerzen“, sage ich entschuldigend und gleichgültig zugleich.

Ein Lausbub-Kichern entweicht ihm. „Tolle Ausrede“, spottet er.

„Danke“, antworte ich. Ironie wird überbewertet. Und Regeln auch.

Mein Mathelehrer sieht mich noch eine Sekunde lang an. Dann wendet er sich wieder der Population von Straßenkatzen in einem Hamburger Stadtviertel zu, angegeben in einer fünf-dimensionalen Matrix. Ich interpretiere das als Erlaubnis, weiterzutrinken, und schenke mir nach.

Irgendwann gelangen wir zu der Frage, wie rum man die Populationsmatrix und die Kastrationsmatrix zur Wachstumsbegrenzung verknüpfen muss, um die neue Populationsmatrix Q herauszubekommen. Alle sind sich einig: Erst Populationsmatrix, dann Kastrationsmatrix. Nö.

„Das macht keinen Sinn. Bei einer nicht vorhandenen Population kann man nichts kastrieren. Und weil wir von rechts nach links rechnen, kommt erst die Kastrationsmatrix und dann die Populationsmatrix. Das sieht man auch schon am Ergebnis. Bei eurer Theorie würde die Geburtenrate im Ergebnis genau gleich sein wie zu Beginn, und das ist schon vom Sachkontext her Quatsch.“

Diskussion darüber, warum das nicht stimmen kann. Ich lehne mich zurück und warte. Ich bin mir sicher, dass ich Recht habe. Boah, dieser Tee, ne. Ich kann nicht aufhören zu trinken.

Drei Minuten später schaut mein Mathelehrer wieder zu mir. „So langsam kommen mir Zweifel. Ich glaube, an dem, was Sina gesagt hat, ist doch was dran.“

„Natürlich ist es das“, kommentiere ich trocken. Der Kurs kichert.

Der Blick in die Lösungen bestätigt meine Theorie. Mathematisch schwierig herzuleiten, aber der Sachkontext machts. Der Mathelehrer ist relativ beeindruckt.

„Sina, ich muss schon sagen: Sehr gut argumentiert.“

Ich neige meinen Kopf leicht, um anzudeuten, dass ich das Kompliment annehme. Sympathie erfolgreich wieder hergestellt. Darauf nen Tässchen Tee. Zum Wohl.

Am Ende der Mathestunde ist der Tee alle. Betrübt schüttel ich die Kanne, aber da ist wohl nichts mehr zu machen. Beim Klingeln beschließe ich, dass ich unter diesen Umständen unmöglich noch arbeiten kann und gehe nach Hause.

Der Lausbub-Lehrer

„Na, was tragen Sie da rum?“, frage ich meinen Mathelehrer, als ich ihm in der Pausenhalle begegne.

„Ein altes Bild“, sagt er und schmunzelt.

„Zeigen Sie mal.“ Ein ein wenig überdimensional eingerahmtes Klassenfoto. Das Glas der Scheibe ist gesprungen. Ansonsten stinknormal.

„Das ist die Klasse, die ich zwei Jahre hatte, bevor ich euch gekriegt habe“, erklärt er. Wir gehen aus der Pausenhalle raus auf den Schulhof.

„Ganz schön kaputt, diese Klasse“, kommentiere ich.

„Nicht nur das Glas!“ und mit einem lauten, etwas zu dreckigen Lachen schmeißt er das Bild in den großen, grauen Müllcontainer, und mal wieder schießt mir in Bezug auf ihn das Wort „Lausbub“ in den Kopf.

„Schönen Tach noch“, grinst er mir noch irgendwie süffisant zu, bevor er zurück ins Gebäude geht.

Hach, wie wunderwunderschön.

Alibi-Freunde

„Die Frage ist ja, wer von den Freunden noch übrig bleiben würde, wenn man monate- oder jahrelang im Krankenhaus ist und so“, sinniere ich in Anbetracht des Unterrichtgegenstandes Krebs.

Meine Sitznachbarin seufzt leise.

„Bei mir wäre es nur mein Freund und meine Schwester. Ansonsten habe ich nur Alibi-Freunde, um zu verbergen, dass ich keine echten Freunde habe.“

Ehrlich, dieses Mädchen. Staubtrockene Wahrheit. Die Bitterkeit in der Stimme lässt ein wenig auf den Schmerz dahinter schließen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie eine Einzelkämpferin ist.

Und dann merke ich, dass ich auch erstaunlich viele Alibi-Freunde habe. Hab ich nie gemerkt. Wollte ich auch eigentlich nie wissen.

Oh man. Knallhart ehrlich, diese Aussage. Aufrüttelnd ehrlich. So bitter ehrlich und wahr, dass sie sich tief in mein Gedächtnis einbrennt. Alibi-Freunde.

Das Mädchen schaut mich an und lächelt ohne besondere Freude. „Weißt du?“

„Ja“, antworte ich fast ein bisschen grimmig und beginne zu hoffen, dass irgendwann der Tag kommen wird, an dem ich charakterlich so weit bin, dass ich keine Alibi-Freunde mehr nötig habe.

Ein kleiner Ausbruch

Ich stehe mit Lea, einem Mädchen aus meiner Stufe, in der Schlange vor den Schulklos. Lea gehört zu den schüchternsten Mädchen, die ich kenne. Wenn man sich mit ihr unterhält, wirkt sie oft befangen. Trotzdem hat sie eine schöne, irgendwie … reine Ausstrahlung. Na ja, jedenfalls stehen wir so da und sehen uns in den Spiegeln gegenüber an.

Eine Weile sagt keiner von uns beiden was. Unsere Spiegelbilder mustern uns kritisch. Dann platzt es plötzlich ganz unvermittelt aus ihr raus.

„Ich will nicht die Pille nehmen wegen meiner Haut.“

Ein bisschen überrumpelt fühle ich mich schon, aber zum Glück schalte ich ausnahmsweise mal ziemlich schnell.

„Das wurde mir auch schon mal empfohlen. Ich machs auch nicht.“

Sie nickt. „Ich meine, ich will doch keine Hormone nehmen wegen meiner Haut oder so. Jeden Tag.“

„Nee. Finde ich auch Quatsch. Und ganz ehrlich: Wir habens beide auch nicht wirklich nötig, oder?“

„Nee.“

Sie lächelt mich zufrieden mit der Unterhaltung an, die Schlange rückt weiter und eine Sekunde später ist der Moment und das Gespräch vorbei.

Ein winzig kleiner, verbaler Ausbruch in der Schlange vor den Schulklos, sonst nichts. Und doch: Es war ihr wichtig, das loszuwerden, das zu teilen, und ich habe ihr zugehört. Dieser Moment hat einen Unterschied gemacht.

Dialog

„Sina? Hast du Chips oder so? Irgendwas salziges.“
„Nö.“
„Gehst du zum Edeka und kaufst was?“
„Nö. Geh du doch und bring mir was mit.“
„Nö.“
„Ich muss noch Wäsche aufhängen.“
„Dann häng ich für dich Wäsche auf und du gehst zum Edeka.“
„Nö. – Okay, doch.“

„Warte mal. Ich geh zum Edeka und du hängst Wäsche auf und machst den Meerschweinchenkäfig.“
„Nö.“
„Okay, nur den Meerschweinchenkäfig.“
„Nö.“
„Nö.“
„Nö. – Okay, doch.“
„Gut. Krieg ich dann jetzt Geld?“
„Nö.“
„Für die Chips.“
„Okay, doch.“

„Du bist ja immer noch nicht los.“
„Nö.“
„Ich will Aufpreis für die Verspätung.“
„Nö.“
„Nö?“
„Nö. – Okay, doch. Ich renne bis zur Hausecke.“
„Okay. Das gibt mir die Illusion, dass du dich beeilst.“
„Genau.“

Ich wachse mir selbst hinterher.

„Sina, was glotzt du so in die Luft?“

„Ich wachse. Ich wachse mir selbst hinterher. Meinen Aufgaben, meiner Verantwortung, meinen Gefühlen. Den Situationen, mit denen ich konfrontiert werde. Den ganzen Themen und Fragen, mit denen ich irgendwie umgehen muss. Meinen Entscheidungen. Ich wachse meinen Entscheidungen hinterher, ja. Vor allem aber mir selbst, und dem, was ich zu sein scheine.“

„Ähm … … … jaaa …“