Ambitionen und das schöne Leben

Part 1: Die Ambitionen.

Sie schreitet durch die Flure und Säle der Bildung, der Forschung, der Neugier. Hier denken und lernen und erschaffen große Köpfe Neues und Altes neu und werden niemals fertig sein. Sie spürt die Gegenwart von Brillanz und Genialität und das begeistert sie. Sie lebt dadurch auf, hier zu sein, hier zu lernen, zu denken, zu verstehen, zu wachsen. Den Giganten zuzuschauen, wie sie denken und arbeiten und teilen. Bildung ist etwas wundervolles, Universität ist etwas wundervolles. Sie kann sich verlieren in den Fachbüchern und Papern, die Faszination hat sie fest in der Hand. Manchmal so sehr, dass sie aus Gesprächen abdriftet, innerlich woanders ist. Dass sie nicht einschläft, weil sie zu begeistert ist. Dass sie jedem und allem erzählen muss, was sie gelernt hat, weil die Welt es wissen muss, und sie es nicht ertragen kann, wenn jemand die Gelegenheit nicht hatte, es zu erfahren. Die Zukunft schillert in wundervollen Farben – all die Spezialisierungen, die sie wählen könnte, all die verschiedenen Wege, die ihr offen stehen. Sie hat Ambitionen und sie greift nach den Sternen.

Part 2: Das schöne Leben.

Sie greift nach einem weiteren Gänseblümchen.

Gerade bringt sie Zweitklässlern bei, wie man Blumenkränze flechtet. Irgendjemand bezahlt sie dafür, und das findet sie immer wieder faszinierend. Es ist das einfache Leben, das schöne Leben. Ihre Freuden sind die Kinder, das Wandern, die Natur, der Tee am Morgen und die Kerze am Abend, die Zeit. Oh ja, die Zeit. Sie genießt es so sehr, den Luxus zu haben, warten zu können, ohne unruhig zu werden. Sie hört auf sich, macht Pausen und nimmt wahr. Ganz präsent zu sein ist ihr Genuss. Wenn sie an dieser einen Stelle am Waldrand entlang läuft – und das macht sie oft – dann singt ihr Herz, jedes Mal. Ihr Herz steht so weit offen. Es ist leicht, ihr zu begegnen. Und obwohl sie sich immer wieder vieles wünscht, weiß sie genau, dass sie eigentlich nicht viel braucht. Kleine Rituale und viel Herz machen aus ihrer schäbigen Wohnung einen Palast der Gemütlichkeit. Und wenn sie müde ist, geht sie einfach schlafen, denn auch dafür hat sie Zeit.

Part 3: Zurück zu den Ambitionen.

Sie ist so müde und es gibt noch so viel zu schaffen. Sie hasst es, wie weit weg sie so oft ist. Dass sie nicht präsent ist für ihren Partner, ihre Freunde. Umschalten von Arbeit auf zu Hause ist so schwierig, oft gelingt es gar nicht. Wie oft lag sie schon wach und hat über diese eine Formel, dieses eine Paper, dieses eine Problem nachgedacht, sich hin- und her gewälzt und sich gewünscht, sie könnte ihren Kopf abschalten? Wie oft stand sie schon vor einer vollen Woche und hat das Kochen und Abspülen und Wäsche waschen strategisch planen müssen, um es überhaupt in ihrem Alltag unterzubekommen? Und wenn dann die ADHS-Ader in ihr durchschlägt und all ihre Pläne durchkreuzt und sie plötzlich nicht mehr klar denken kann, so sehr sie auch will, dann kommt der Selbsthass – die anderen schaffen das doch auch. Warum schafft sie das nicht? Der Druck. Der Blick in die Zukunft: Wie lange will sie das noch machen? Will sie das wirklich?

Part 4: Zurück zum schönen Leben.

Eigentlich wollte sie auch mal wirklich etwas erreichen. Ihr Gehirn investieren und damit weit kommen. Jetzt sieht sie andere, die das getan haben, die all das getan haben, was sie nicht getan hat, und es steigt ein seltsames Gefühl in ihr hoch. Sie mag gar nicht zugeben, dass sie jetzt nicht mehr zu ihnen gehört. Sie war doch das schlaue Kind. Die Überfliegerin. „Möchtest du zwei Fremdsprachen gleichzeitig belegen statt nur einer? Möchtest du in die Begabtenförderung? Möchtest du eine Klasse überspringen?“ „Aus dir wird Großes werden.“ Was ist aus all dem geworden? Dort, wo sie dachte, das sie einmal sein würde, sind jetzt andere. Sie steht morgens auf, tut all die kleinen Dinge, und fühlt sich seltsam verloren. Sie vermisst das Kitzeln im Hirn, das nur ein genialer Gedanke auslösen kann. All die Lösungen, die sie nicht erfunden hat. All die Gedankengebäude, die sie nicht durchdrungen und sich zu eigen gemacht hat. All die Schärfe, die ihr Geist hätte erlangen können, und die nun nicht da ist. Sie fragt sich, wer sie hätte sein können, werden können, hätte sie einen anderen Weg gewählt.

Part 5: Ich.

Einen Weg wählen müssen. Einen schnellen Geist, der sich mit einer langsamen Seele einen angeschlagenen Körper teilt. Sehnsucht und Grenzen. Die großen Träume und das kleine bisschen Ich, das übrig ist, wenn ein Windstoß kommt.

Schritte im Nebel der Möglich- und Unmöglichkeiten.


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