Meine große Schwester

Jetzt mal so ganz in echt habe ich keine große Schwester. An „groß“ habe ich nur einen Bruder und an „Schwester“ nur eine kleine, und das komplette Gegenteil, also den kleinen Bruder, hab ich auch noch. Also praktisch alles außer die große Schwester. Ich hätte sie oft gern gehabt. Seit einiger Zeit spinne ich Geschichten über sie. Es sind „Was-wäre-wenn“-Geschichten. Es sind Dinge, die ich gern mal so erleben würde. Es sind Begebenheiten, die besser nie passieren sollten. Manchmal absurd, manchmal liebevoll, manchmal sehr schwarz. Vor allem aber sind die Fiktion. Wenn ihr also einen Text auf meinem Blog lest und irgendwo kommt meine große Schwester vor, wisst ihr sofort: „Aha, Sina spinnt sich was zusammen. Entweder ändert sie die Realität ab oder es ist total erfunden.“ So einfach ist das. Los gehts.
Ach, Moment, noch was: Meine große Schwester hat nicht so wirklich einen festen Charakter. Bemüht euch also gar nicht erst, die unterschiedlichen Geschichten und Charaktereigenschaften unter einen Hut zu bringen. Sie ist einfach nur Projektionsfläche meiner Fantasie.

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„Wenn du die Jacke wirklich nimmst, dann geh ich nie wieder mit dir zusammen einkaufen“, kommentiert meine große Schwester, als ich aus der Umkleidekabine komme. Ich schmolle, obwohl sie Recht hat. Ich bin zwölf und mein Sinn für Farben ist so empfindlich wie unzuverlässig. Mal treiben mich kleine Disharmonien in den Wahnsinn und mal bemerke ich die grässlichsten Kombinationen nicht.

„Nimm das hier“, sagt meine große Schwester und hält mir einen karierten Pulli in Übergröße hin.
„Spinnst du?“
Sie lacht. „Vielleicht. Zieh an.“
Mit gerunzelter Stirn gehorche ich ihr. Er reicht mir bis zur Mitte der Oberschenkel. Meinem Opa würde er wahrscheinlich besser stehen. Er ist potthässlich. Ich verberge meine echte Meinung hinter einem kühlem, analytischen Blick in den Spiegel.
„Ich finde, du solltest den nehmen.“ Meine große Schwester schaut mich herausfordernd an. Sie will mich provozieren. Ich muss in mich hineingrinsen. Dieses Spiel kann ich auch.
„Jap, ich finde den auch gut“, antworte ich und drehe mich einmal im Kreis. „Hast du dich eigentlich schon entschieden?“
„Ich glaub, ich nehme die grüne Jacke.“
„Niemals. Ich hab da vorhin noch etwas viel besseres gesehen.“ Ich sprinte los und halte ihr ein gelb gepunktetes Shirt hin, das einen Rückenausschnitt bis zur Hüfte hat. Meine Schwester ist zu cool, um sich aus der Fassung bringen zu lassen.
„Komisch, dass mir das vorher nicht aufgefallen ist. Ich hätte es sofort genommen.“ Das klingt so ehrlich, dass ich kurz stutze. Sie grinst spöttisch, als sie es bemerkt. Kurz darauf sieht sie in etwa genauso lächerlich aus wie ich.
„Mhm“, meint sie anerkennend zu ihrem Spiegelbild. Als ich Anstalten mache, meinen Pulli wieder loszuwerden, hält sie meine Hände fest. „Oh nein, da fehlt noch was an deinem Outfit. Ich hab da vorne diese rote 7/8tel-Hose gesehen…“

Zehn Minuten später sind wir nicht mehr wiederzuerkennen. Die scheußlichsten Produkte des Kaufhauses haben sich in unserem Erscheinungsbild vereint. Jetzt geht es um die Frage, ob wir es wirklich endgültig durchziehen und den Kram kaufen.

„So, hast du alles, was du brauchst?“, sagt meine Schwester, und nichts an ihrer Mine verrät, wie ernst sie es meint. „Ich denke schon“, stammle ich. Der ganze Spaß von vorher ist in Unbehagen umgeschlagen. Das ist Mamas Geld, und ich werde das nie anziehen. Sollen wir das wirklich machen?

„Hi, Sina! – Oh.“ Ich drehe mich um. Ein Mädchen aus meine Klasse. Ich werde knallrot und würde am liebsten im Boden versinken. „Hi“, quetsche ich hervor. Heißer Scham durchschießt mich. Wenn sie das jetzt rum erzählt, und – und dann denken alle sonst was über mich …
Meine große Schwester blickt kurz in den Spiegel, und erst da scheint ihr aufzugehen, wie wir wahrscheinlich gerade auf andere wirken. Doch sie hat weit mehr Selbstbewusstsein als ich. Sie wirft mir einen Blick vor, der mir sagt, dass sie irgendetwas ausheckt. Richtig schelmisch wirkt sie. Sie wendet sich meiner Klassenkameraden zu, mustert sie kurz und sagt dann verschwörerisch und sehr bestimmt:

„Na, du sucht wohl auch ein kleines come-up, was? Kein Ding, das haben wir gleich. Ich hab da vorne was gesehen, das würde genau zu deinen Haaren passen…“

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4 Kommentare

  1. Danke, mein Lieblingsdino! :-)
    (Aber bist du dir sicher, dass der Kommentar unter dem richtigen Artikel gelandet ist?)


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