Gedankenüberschuss

Wenn die innere Zwischenablage überfüllt ist und man mit dem Verarbeiten seines Lebens nicht so recht hinterherkommt

Wenn ich meine Augen schließe und wieder in all den vergangenen Momenten der letzten Tage bin, all die Stimmen höre, die mein Ohr erreicht haben und all das sehe, was vor meinem Auge hergezogen ist, dann möchte ich gerne in einen Zug einsteigen und wegfahren. Das liegt daran, dass man in Zügen gut denken kann, weil man nirgendwo ist und keine Aufgabe hat, außer dass man in materieller Form existent bleibt, bis man irgendwann irgendwo ankommt und da aussteigt. Das liegt auch daran, dass ich von einer bekannten Person, einer Freundin oder Tochter oder Mitarbeiterin oder komischen Vogel zu einem unbekannten, anonymen und sofort wieder vergessenen Gesicht werde. Manchmal ist das gut, weil man dann nämlich auch keine Erwartungen mehr an sich entdeckt, außer eben ein unbekanntes Gesicht zu sein, und das ist nicht so schwer.

Der Vorteil beim Denken im Vergleich zum Schreiben ist es, dass man keinen einzigen Gedanken beenden muss. Beim Schreiben steht am Ende etwas da, schwarz auf weiß, und das fühlt sich irgendwie endgültig und wahr an. Meine Gedanken sind nicht endgültig und wahr, sondern halb angeschaut und doch irgendwie eingeatmet. (Das versteht irgendwie keiner, weil das voll die komische Metapher ist, aber das ist nicht wichtig, weil es nämlich tiefgründig und poetisch klingt.)

Ich als Mensch an und für sich habe eine Haut. Außerhalb meiner Haut befinden sich nur noch Fuß- und Fingernägel und meine Haare, insbesondere meine rote Lockenmähne auf meinem Kopf. Innerhalb dieser Haut ist ein gewisser Raum, der mit Gedanken, Gefühlen und Identität gefüllt sein kann. Es reicht gerade gut für mich selbst und ein kleines bisschen für die Gedanken, Gefühle und Identitäten anderer, aber wehe zu viel. Mit geschlossenen Augen und den vielen, unbeantworteten Eindrücken bekomme ich aber Platzangst, Angst vor zu wenig Platz in mir drin, Angst vorm Platzen, Platzangst. Fluchtreflex. Zugfahren.

Manchmal wünsche ich mir, in bestimmten Momenten einfach nicht antworten zu müssen, nicht reagieren zu müssen, weil ich einfach nicht weiß, wie, und eigentlich auch gar keine Lust habe, mich mit Menschen auseinanderzusetzen. Oder mich mit diesem Menschen auseinanderzusetzen. Da spricht mich jemand an, sieht mich an – und mein Gehirn, mein Herz schweigt. Schweigt vom Rückzug, vom Verstecken, vom Frieden. Jemand stört diesen Frieden, aber ich will nicht. Lass mich in Ruhe, sage ich, oder sei mit mir ruhig, das wäre mir noch lieber. Bitte setze dich neben mich und lass uns schweigen von der Vergangenheit und ihren Geschichten und Gesichtern, bis wir wieder in der Gegenwart angekommen sind.

Ich habe keine Angst vor mir selbst. Mich mit dir selbst zu unterhalten ist eine Disziplin, die ich schon beherrscht habe, bevor ich mich mit anderen unterhalten konnte. Beständig erfahre ich dabei neues. Ich bin ich, das stimmt schon, aber oft bin ich mir genug wer anderes, um mich kennen lernen zu müssen und um für meine Denk- und Fühlweise Erklärungen zu brauchen. Und wie das so ist, wenn man mit jemandem sehr lang intensiv unterwegs ist, habe ich mich trotz all meiner Merkwürdigkeiten und unverständlichen Verdrehungen lieb gewonnen. Ich versteh mich zwar nicht immer, aber ich habe Frieden mit mir, und manchmal lade ich in diesen Frieden Menschen ein.

Hoffnungsbringerin, nannte mich jemand. Wenn du da bist, fühlt sich das immer an, als würde alles gut werden.

Ja, es wird auch alles gut werden. Davon bin ich tiefer überzeugt als irgendeine Sorge Wellen schlagen könnte. Tiefer, als irgendeine Platz-Angst wegen Reizüberflutung mich überfordern könnte. Tiefer als all die plappernden Stimmen in meinem Kopf, die reden von Vorgestern und Gestern und Heute und allem dazwischen und davor und dahinter.

Ich steige in keinen Zug ein, denn ich muss nirgendwo hin, und es ist auch keiner da, der sich gerade neben mich setzen und mit mir schweigen wollen würde. Stattdessen sitze ich hier und schreibe, schreibe von zu viel in mir in einem Moment, in dem das zu viel in mir endlich hinaus kann und ein es darf sein wird. Es darf sein. Alles wird gut.

Erdacht, hingeträumt und wohlgefühlt

Heute nehme ich mir mal Zeit, schiebe alle Stimmen zur Seite, die mich vor Kitsch und Quatsch warnen, und träume mich an andere Orte, in andere Zeiten.

Ich träume von einem kleinen Holzhaus mit einer Terrasse, die nur noch ein paar Meter von einem Seeufer entfernt ist. Neben dem Holzhaus, in einem kleinen Verschlag, liegt ein Kajak. Wenn es warm genug ist, dann hol ich das Paddel aus dem Keller, zieh das Kajak ins Wasser und fahre mit kräftigen Zügen auf den See hinaus. Da bin ich dann ganz alleine, lasse mich treiben, mit dem Wasser so nah bei mir, und der Himmel und die Ruhe und der Blick auf die Bäume am Ufer.

Ich träume mich auf Bühnen, kleine und große, vor Menschen, die hören wollen, was ich zu sagen habe. Ich habe ein Mikro in der Hand und sage relevantes, weises, schönes, und Menschen klatschen, weil es in ihnen etwas ausgelöst hat, das gut war. Einige kommen nachher zu mir und wir reden, und sie sagen, dass meine Worte etwas verändert haben – aber eigentlich waren es gar nicht meine Worte, sondern etwas, was sie gar nicht erklären können. Und ich lächle, weil ich weiß, was es war.

Ich träume von meinem zu Hause einmal später. Menschen kommen gern, weil es ein heller Ort ist. Ein Ort, wo ich einfach für dich beten kann, wenn du es brauchst, und wo Menschen sich begegnen, ganz echt. Da steht ein Klavier, und da spiele ich manchmal und singe davon, wie gut mein Gott ist. Vielleicht wuseln da ja auch Kinder herum und ein wunderbarer Mann, der seinen Arm um mich legt, wenn die Welt mal zu kalt zu mir scheint. Es könnte sogar sein, dass ich bis dahin kochen gelernt habe und es nach Klößen mit Pilzsoße riecht.

Ich träume von einer Runde Mädels, mit denen ich auf einer großen Wiese auf dem Rücken liege und den Himmel anschaue. Wir treffen uns häufiger, reden über Gott und die Welt und ich teile mit ihnen, was ich schon weiß, und sehe sie wachsen und staune. Diesmal ruhen wir uns aber einfach nur mal aus von der Welt und der Zeit, kitzeln uns gegenseitig heimlich mit Grashalmen und lernen etwas, was man schnell mal vergisst: Einfach nur zu sein.

Ich träume davon, wie ich in einem recht ruhigen ICE-Waggon sitze, meinen Rucksack mit dem Gepäck für ein Wochenende neben mir, auf dem Weg irgendwohin, noch Stunden Zeit. Wie ich aus dem Fenster schaue, nichts tun muss, nichts leisten muss, sondern innerlich so frei bin wie kaum sonstwo. Wo ich anfange zu träumen, von Kajaks, Bühnen und wundervollen Menschen…

und dann an meinem Coffee to go nippe, den ich bis dahin vielleicht ja auch noch mag.