Der Mensch hinter der Krankheit

Wenn Freunde oder Verwandte psychisch krank werden, entstehen Fragen. Viele Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Und obwohl ich mit dieser Situation schon viele, viele Jahre Erfahrung habe, begleiten mich diese Fragen immer noch.

Zum Beispiel frage ich mich oft: Bist du das? Oder ist das die Krankheit? Wenn sich als Teil deiner Krankheit deine Gedanken verändern, wie viel von dem, was du sagst, bist du, und wie viel ist Krankheit? Und wenn ich dich kaum noch wiedererkenne – bist du da noch? Irgendwo hinter dieser ganzen Störung? Bist du da? Kannst du mich sehen?

Ich frage: Kannst du nicht oder willst du nicht? Könntest du, wenn du wolltest? Kannst du überhaupt wollen? – Es ist so schwer nachzuvollziehen, wie die einfachsten Dinge nicht mehr funktionieren. Wie ist es möglich, dass du das nicht hinkriegst? Natürlich bist du krank und stellst dich nicht einfach nur an. Aber auch ein Depressiver oder Ängstlicher kann sich anstellen. Wann ist es was? Wann kannst du wirklich nicht?

Ich frage mich: Verstehe ich dich oder verstehe ich dich nicht? Manchmal erzählst du von Dingen, die kommen mir bekannt vor. Und ziehst dann Schlussfolgerungen, die ich nicht verstehe. Meintest du dann auch dasselbe wie ich? Wie viel von dem, was du erlebst, kann ich nachvollziehen? Wo ist die Grenze?

Besonders häufig frage ich mich: Wie nah soll ich dich an mich heran lassen? Wie viel Nähe kann und will ich ertragen? Wie viel Distanz kann ich vertreten? Ist es in Ordnung, deine Krankheit schrecklich anstrengend zu finden und nur zu ertragen, weil ich den Menschen lieb habe, der irgendwo in dieser Krankheit versteckt ist?

Und auch: Darf ich sagen, was ich denke? Darf ich dir sagen, dass du gerade Dinge sagst, die für mich offensichtlich Quatsch sind? Darf ich es sagen, wenn ich denke, dass dir etwas helfen würde? Darf ich von meinen Problemen erzählen? Darf ich ehrlich darüber sein, wie anstengend deine Krankheit für mich ist? Darf ich einfach – ich sein? Oder sollte ich mich lieber zurückhalten?

Ich kann sie nicht ein für alle Mal beantworten, diese Fragen. Ich muss mich immer wieder neu mit ihnen beschäftigen. Mit jeder Situation.

Ich glaube, was ich eigentlich sagen will – und das geht raus an alle, die auch jemanden lieb haben, der psychisch krank ist – ich glaube zutiefst, dass es in Ordnung ist, diese Fragen zu stellen. Du bist nicht allein. Mir geht es genauso, und mit uns beiden noch so vielen anderen.

Du machst mich zur Schauspielerin

(Ein Text aus Juni 2015)

Deine Anwesenheit, mein Freund, macht mich zur Schauspielerin. Ich kann nichts dagegen tun.

Bist du da, weiß ich nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Wie man sich eigentlich normal verhält. Was man so redet, wenn man sich unterhält, und was man besser nicht sagt. Ich weiß nicht mehr, wohin mit meinen Händen und mit meinen Gedanken und mit meinem Blick. Es ist ganz, ganz komisch.

Ich weiß nicht, ob ich will, dass du merkst, was du mit mir machst. Also schauspielere ich „normal“. Alles ist normal mit mir und alles ist ganz normal zwischen uns. Natürlich ist es das. Was soll auch sein? Du bist ein ganz. normaler. Junge. So wie ich noch viele kennenlernen werde. Und ich kann mich ganz normal verhalten, wenn du da bist. Siehst du, wie normal das alles ist? Ganz unverdächtig.

Aber eigentlich gefällst du mir schon sehr. Ich will, das du mich toll findest. Also schauspielere ich „find-mich-toll“. Was ich glaube, das du magst, versuche ich zu sein. Was ich gut kann und für eine Stärke von mir halte, das sollst du sehen. Sieh her, was für ein tolles Mädchen ich bin, du solltest definitiv mal ein Auge auf mich werfen, was? Und siehe da, zufälligerweise habe ich gerade heute mein Lieblingsshirt an, wo ich wusste, dass wir uns sehen. Sieht das gut aus? Gefalle ich dir eigentlich? Oh, und ganz aus Versehen habe ich dich wohl gerade berührt. Und sitze neben dir. Und lache über deine Witze. Und fange deinen Blick auf.

Eigentlich will ich ja gar nicht schauspielern. Eigentlich wäre ich ganz gern einfach ich. Aber ich vergesse schlichtweg, wie das geht, wenn ich merke: Du bist im Raum. Wie ging das nochmal, das Sina-sein? Die Möglichkeit, dass du mich gerade sehen, beobachten, dir Gedanken über mich machen könntest, vernebelt mein ganzes Gehirn. Und ich hasse das.

Aber irgendwie, zum allerersten Mal in meinem Leben, macht es mich auch gleichzeitig glücklich.

Ich bin eine einsame Schauspielerin. Du bist mein ganzes Publikum. Ich spiele und spiele und hoffe, dass du mich für die Person liebst oder zu lieben beginnst, die ich hinter meinem Schauspiel bin. Es ist zum verzweifeln, dass du das vielleicht nicht tust, nie wirst, und ich das nicht beeinflussen kann. Keine Ahnung, was du denkst. Trotzdem bin ich glücklich. Trotzdem grinse ich immer wieder abgelenkt in mich hinein. Trotzdem mag ich dich wirklich sehr gern.

Deine Anwesenheit, mein Freund, macht mich zur Schauspielerin. Ich kann nichts dagegen tun.

Kontraste

So viel in Kontrasten habe ich wohl noch nie gelebt.

Auf der einen Seite: So viel einfach nur aushalten, aussitzen, abwarten. Zu Hause, in der Schule. Anstrengung, Schmerz, Stress, verletzende Leute ertragen, halt irgendwie. Situationen, aus denen ich nicht raus kann. Versuchen, nicht bitter zu werden und nicht darunter kaputt zu gehen. Alles gar nicht so leicht. Weiter warten, weiter hoffen, weiter aushalten. Irgendwann wird es Veränderung geben müssen.

Auf der anderen Seite: Wie ein Feuerwerk sein. Menschen, die mich Rollen einnehmen lassen, mit denen ich was anfangen kann, wo ich was geben kann, wo ich einen Unterschied machen kann. Mich investieren, einsetzen, sprühen vor Ideen. Fast mühelos weiterlaufen. Das Gefühl, dass es irgendwie gut und richtig ist, was ich tue.

Auf der einen Seite: Menschen, die mich klein halten, ständig zurecht weisen, an mir herum meckern, mir wenig Wertschätzung oder Verständnis entgegenbringen. Die mir vermitteln, was ich alles falsch mache, wie schlecht ich bin und was mit mir nicht stimmt. Die mich zu einem kleinen, dummen, nervigen Kind machen wollen. Denen ich irgendwie aus dem Weg gehen will, aber viel zu wenig kann.

Auf der anderen Seite: Menschen, die mich wahrnehmen. Die mich schätzen, ermutigen, stärken. Die hinter mir stehen, mir in Liebe Stärken und Schwächen spiegeln. Die an mich glauben. Wo ich sein darf, wie ich bin, ohne befürchten zu müssen, dass negativ auf mich reagiert wird. Menschen, mit denen ich Gemeinschaft haben will. Wo ich mich ein wenig zu Hause fühle.

Auf der einen Seite: Zweifel an mir, Verwirrung über mich selbst, Unruhe in Bezug auf alles, was ich schwer aushalten kann, egal ob Menschen oder Umstände. Zu wenig Kontrolle über mich, ein zu unklarer Blick auf mich und mein Leben. Stellenweise Unfähigkeit, die Frau zu sein, die ich sein will, und meine Zeit und mein Leben so zu gestalten, wie ich will. Schwächen, die ich nicht benennen kann und mit denen ich nicht umzugehen weiß. Unsicherheit.

Auf der anderen Seite, und ich hoffe, dass das der Kern ist: Ruhe, Nähe zu Gott, Kraft, Mühelosigkeit. Die Stärke, zu ertragen und weiterzulaufen. Leichtigkeit und Friede im Herzen. Freiheit in meinen Gedanken. Zunehmende Kontrolle über mein Handeln. Selbstannahme. Liebe für Menschen. Unberührtheit, Reinheit. Das Auge im Sturm, die Ruhe in all den Kontrasten, der alles umfassende Friede. Manchmal. Immer häufiger. Mein Wunsch.

Egal, was für Kontraste mich umgeben, womit ich alles umgehen muss: Ich will diesen Kern bewahren. Da Klarheit ohne Spaltung, Einheit ohne Kompromisse finden. Gott in mir, ich in Gott, unabhängig von allem, befreit von schwarz und weiß.

Sein sein.

Dinge, die mich verwirren

1. Dass 95% der frei herumlaufenden Omis beige trägt. Gibt es irgendwo ein Gesetz, das vorschreibt, dass alte Damen nur noch beige tragen dürfen, damit sie noch grauer aussehen? Kriegt man dann einen Brief oder was? „Hallo Frau Maier, Sie sind jetzt 67, gehen damit in Rente und dürfen ab sofort nur noch beige tragen, mein Beileid. Und wenn Sies nicht tun, kommt die Sittenpolizei.“ Habt ihr mal drauf geachtet? Das fängt bei den Schuhen an und hört bei der Handtasche auf. Bitte, bitte lasst mich andere Farben tragen, wenn ich mal alt bin!

2. Dass in Büchern bei Umarmungen und Küssen oft das Wort „pressen“ benutzt wird. Sie presste ihre Lippen gegen seine, oder so ähnlich. Nein! Pressen erinnert mich eher an eine Schrottpresse oder Druckerpresse, an einen gewissen Vorgang auf der Toilette oder an das Blätter- und Blütenpressen, bei dem man den 27-bändigen Brockhaus auf gepflückte Pflanzenteile stapelt. Dieses Wort passt doch überhaupt nicht zu Dingen wie Küssen und Umarmungen! Oder?

3. Folgender Werbetext, der bei uns in der Stadt auf einem Plakat steht: „Wenn Liebe durch den Magen geht, ist das hier Sex.“ Darunter sind Tortellini abgebildet. Ich weiß nicht, aber ich komme einfach nicht dahinter. Mit „das hier“ sind offensichtlich die Tortellini gemeint. Wenn die Tortellini durch den Magen gehen, werden sie an einer bestimmten Stelle wieder ausgeschieden, und das hat dann nichts mit Sex zu tun, obwohl das in der Nähe stattfindet. Alternativ werden die Tortellini als Polster und Vorratslager vom Körper angelagert, und obwohl die Franzosen das beschönigend „poignée d’amour“ nennen, besteht auch hier kein Zusammenhang zu gewissen Liebesakten. Wirklich.

4. Wenn in der Zeitung, selbst in seriösen Ausgaben, Schlagzeilen stehen wie „Zwei Deutsche bei Flugzeugabsturz in Ägypten gestorben“ und in der Unterüberschrift steht, dass es insgesamt 200 Tote gab. Meine Güte, sind wir echt so arm dran, dass die Nationalität eines Toten das Gewicht des Todes ausmacht? Es ist ja schon peinlich, einen Flugzeugabsturz überhaupt auf die Titelseite zu setzen, aber wenn, dann doch bitte richtig. (Ja, ich finde so etwas unwichtig. Wenn du in zehn Jahren auf das Jahr 2013 zurück schauen wirst, werden ganz andere Dinge aus den Nachrichten wichtig sein.) Diese ganze Aussage klingt so, als würden die Journalisten da sitzen und denken: „Oh, Flugzeugabsturz in Ägypten, mhm. Deutsche dabei? Nee? Ach, dann ists ja voll egal … Oh, doch?! WAH!!! Schlimmste Sache EWWAAA!!!11!111“

5. Dass unter genau dem selben uralten Artikel in regelmäßigen Abständen englischer Spam auftaucht. Warum immer dieser Artikel? Warum immer auf Englisch? Ist der auf irgendeiner englischen „Wir zeigen euch, wo ihr hinspammen könnt“-Seite verlinkt oder wie oder was?

Was verwirrt euch?

Liebe Grüße,
Eure verwirrte Sina