Jemand, der mir beim Klavier spielen zuhört

„Darf ich zuhören?“

„Ja“, flüstere ich zurück.

Die Welt zerbricht. Manchmal tut sie das. Dann steht man da und versteht nicht, wie das, was vorher heile war, jetzt kaputt ist. Mit einem Mal zerschlagen. Der Schock kommt, der Schock geht, Tränen und Gedanken und Erinnerungen, ich kann kaum atmen – irgendwie weiter. Und jetzt?, fragt es in mir, fragt es beständig in mir, nach jedem neuen Bruch. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe für all das. Ich sehe nicht, wie ich den Weg schaffen soll, der da vor mir liegt. Gebeutelt, wie ich bin. Verletzt. Zerbrochen.

Sommerlagerluft ist abends kühl, und die Metallringe des Eingangs des großen Veranstaltungszeltes klirren, als die Zeltplane ein wenig zur Seite geschoben wird. Ich habe Klavier gespielt, alleine, wie schon so manches Mal am Abend, wenn beinahe alle anderen beschäftigt sind. Ich habe versucht, Musik zu machen, die macht, dass mein Inneres durch den Schmerz und das Chaos hindurch zu Gott kommen kann. Allein und versunken in dem großen Zelt am Klavier. Jetzt stocke ich, sehe mich um, erkenne, wer da hinein gekommen ist, versuche, mich nicht ganz durcheinander bringen zu lassen. „Darf ich zuhören?“ – beinahe schon zaghaft gefragt.

„Ja.“

Jemanden zu haben, der zuhört, wie man Klavier spielt, wenn die Seele zerbrochen ist – jemanden, der einen Schritt weiter gehen kann als reden und beratschlagen und ablenken, nämlich ganz ruhig da sein und schweigen – so jemanden zu haben, und wenn auch nur für zwanzig Minuten, wenn auch nur ausgeliehen für diesen Moment – das macht den ganzen Unterschied.

Den Unterschied, den ich brauche, um an Mut für den nächsten Tag zu glauben.

Abenteurerin.

Frauen sind schön und Männer sind stark. Irgendjemand hat das irgendwann mal so festgelegt, und irgendwie hat er damit auch Recht. Die Männer bekommen damit die Lizenz, zu kämpfen und wild zu sein, abzuhaun in die Natur und auf Abenteuersuche zu gehen – halt zu leben. Und Frauen kriegen damit die Lizenz – für Kosmetikkurse und Kleider, Mädchenabende und Männer verführen. Na toll. Ja, jede Frau will schön sein und das ist ein Wunsch in einer Frau, der nicht zu unterschätzen ist, aber mir fehlt da etwas ganz erhebliches.

Ich will auch wild sein, den Puls und den Atem der Natur fühlen, für etwas kämpfen, Abenteuer erleben. Ich will nicht die Prinzessin im Turm sein, die wartet und wartet und dann gerettet wird und dann in ihre neue Burg kommt. Ganz bestimmt nicht. Ich will raus. Ich will die Ronja sein, die selbst in den Wald geht, ihn erforscht und zu ihrem Reich macht. Erst dort lernt sie Birk kennen. Ja, isso. Ich bin es leid, dass Männer denken, sie wären für den Teil mit dem Kämpfen zuständig, und wir sollen sie dann bejubeln. Ich will auch für etwas kämpfen, und am allerliebsten zusammen.

Ich liebe es, mich an unsere Familienurlaube zu erinnern. Das waren Abenteuer. Eine Woche Kanu fahren auf Seen in Mittelschweden, Seewasser trinken und alles nötige in weißen Plastiktonnen, Zivilisation irgendwo hinter wunderschönen Wäldern und Felsen. In den Bergen wandern, ohne Wege durch Geröllfelder und zu Gipfeln hoch, aus eiskalten Bergbächen trinken, und immer weiter, von einer Hütte zur nächsten, Lebensrhythmus nach Wetter. Segeln im Wattenmeer, aus Versehen bei Windstärke acht auf dem Wasser, nass bis auf die Haut, Ruder führen, Seile belegen, Bojen suchen. Windsurfen, nicht gegen, sondern mit dem Wind arbeiten, Balance und voller Körpereinsatz, Wellen und Wetter meistern. Oder nicht die Familienurlaube, sondern das Sommerlager: Eine Nacht im Wald schlafen mit dem Geruch von Laub in der Nase, kochen auf offenem Feuer, alles wichtige in Wanderrucksäcken, die Toilette ist der nächste Busch und Zähneputzen überbewertet. Wer, und vor allem: welche Frau sagt denn zu so etwas nein, wenn nicht aus dem Grund, dass schlechte Erfahrung oder Angst sie lähmt? Ich behaupte mal, das sind nicht besonders viele. Also ich hoffe es.

Und ich will, dass ich das darf. Dass mir das voll und ganz zugestanden wird. Dass ich in der Rolle der Abenteurerin nicht nur toleriert, sondern vollständig akzeptiert, komplett angenommen und durch und durch erwünscht bin. Ich kann auch Feuer machen, und ich kann kämpfen, und ich kann stark sein, also nehmt mich mit, baut mich ein. Ich will dabei sein.

Lasst mich bitte nicht allein in dieser Welt, in der vorbildlich emanzipierte Frauen in ihren Büros Managerrollen einnehmen und junge Mädchen sich jeden Morgen vor der Schule schminken. Nehmt mich mit, lasst mich raus, lasst mich frei.

Ich will Abenteuer.

Kleine, feine Worte

Mein Bruder und ich unterhalten uns über einen Jungen, den wir vom Sommerlager kennen und mit dem ich mich sehr gut verstehe.

„Ich würde es so sagen. Er ist nicht dein Freund und das ist auch gar kein Thema bei euch, aber wenn dich ein Kerl auf dem Camp angemacht hätte, gäbe es zwei Menschen, die ihn verprügeln würden: Ich und er.“

Ich muss lachen, denn das trifft es verdammt gut.

Aber – noch mal zurückspulen. „… zwei Menschen, die ihn verprügeln würden…“ Prügeln – wegen mir. Für mich. Kämpfen. Mein Bruder.

Du weißt es nicht, aber mein Selbstwertgefühl feiert gerade eine Party.

 

Someone

(Vorsicht: Erster veröffentlichter Beitrag auf Englisch. Seid gnädig mit mir.)

Für den, der mich auf dem Sommerlager ganz unerwartet gefragt hat, wie es mir eigentlich geht, als ich mich gerade gar nicht wahrgenommen gefühlt habe. Danke, Junge.

Someone looking at me
Someone talking to me
Someone interested in me
Someone addressing right me
is someone who makes the difference.

Auf Wiedersehen, Sommerlager.

Ich stehe hier, auf der Wiese, die jetzt zweieinhalb Wochen lang mein Zuhause war.
Ja, es ist inzwischen nur noch eine Wiese. Vorgestern Morgen standen hier noch Zelte, Türme, Überdachungen und so weiter, ein ganzes Lager eben. Man kann am Boden noch sehr gut sehen, wo was war. Dort, wo wir ständig lang gegangen sind, ist die Wiese braun. In unmittelbarer Nähe von Abspannungen und Bauten ist das Gras noch saftig grün. Und unter Zelten mit Boden (wie beispielsweise den Waschzelten, dem Küchenzelt oder dem Sanitäter-Zelt) ist das Gras gelb und platt geworden. Auf dieser Wiese, auf diesem Sommerlager, habe ich zweieinhalb Wochen lang gelebt. Eine Woche als Teilnehmerin bei den Älteren, den Rest als Mitarbeiter bei den Jüngeren.

Ich habe hier so eine intensive Zeit gehabt, so viel erlebt.

Ich hatte Heulattacken und Lachkrämpfe, Konflikte und Versöhnungen, Zweifel und Erfolge. Hier habe ich darum gebangt, Mitarbeiter werden zu dürfen. Ich habe ich eine Tüte Chips ausgeben müssen, als ich dann gefragt wurde. Hier hatte ich intensive Gespräche. Hier bin ich hart an meine Grenzen gekommen. Hier bin ich über meine Grenzen hinaus gegangen und dadurch gewachsen. Hier habe ich wunderschöne Sonnenauf- und -untergänge beobachtet. Hier habe ich Kindern meinen Glauben gezeigt und ihnen von Gott erzählt. Hier war ich für Gott. Hier habe ich erlebt, wie völlig abhängig ich von ihm bin. Hier habe ich Vorzelte und Türme gebaut. Hier habe ich mit Kids gekuschelt und gesungen, Marshmallows gemacht und Stockbrot gegessen, gewandert und draußen geschlafen, gemalt und motiviert, gekümmert und durchgeatmet. Ich habe eine Lagerstory gelebt und getragen. Hier habe ich in einem Waschzelt geduscht und bin auf Dixiklos gegangen. Hier gab es ein Dixi, das nach mir benannt wurde. Hier habe ich die Leitung meiner tollen Gruppeneltern und meines Coaches genossen. Hier habe ich viele, viele Menschen in mein Herz geschlossen. Hier, auf dieser Wiese.

Zweieinhalb Wochen war dieser Lagerplatz jetzt mein Zuhause. Ich war nur für die 2-Tageswanderungen weg. Und ich fühle mich hier wohl, geborgen, gut aufgehoben, zuhause. Wie eine Ewigkeit kommt mir die Zeit hier schon vor. Was am Anfang der Zeit war ist schon so weit weg.

Und ich stehe hier, stehe jetzt hier, und werde gleich abgeholt nach Hause. Ich freue mich auf Zuhause, und gleichzeitig fällt es schwer, zu gehen. Es ist so eine Art Zerrissenheit und Ziehen in mir drin. Ein ganz neues, ungewohntes Gefühl. Mir fällt auf, dass ich noch nie zweieinhalb Wochen am Stück an einem anderen Ort war als Zuhause. Und vor allem nicht an einem Ort, den ich so sehr liebe. Ich will bleiben an diesem Platz und ich will nach Hause. Bleiben wäre Quatsch, denn wir haben ja heute und gestern alles abgebaut. Trotzdem will ich nicht gehen.

Und obwohl da dieses Ziehen ist, habe ich in mir ein glückliches Gefühl. Es war gut, wie es war. Es war gut, dass ich hier war. Es ist gut, dass ich jetzt nach Hause fahre. Es ist gut, wie es ist. Gott ist gut.
Und ich schaue noch einmal über den Platz.
Wie vertraut er mir ist.

Und dann gehe ich.