An die zwei Süßen aus der Uni.

Ich bin in euch reingelaufen, als ich einen Bericht abgeben musste. Ihr standet unten zwischen den Glastüren, am Knotenpunkt zwischen Gebäudeteil F und G und Gamma und dem Aufzug in die Laborhöhen. An genau so einem Ort, wo man sich eben trifft, aber wo auch kein richtig guter Platz ist, um stehen zu bleiben. Seid ihr aber. Und ich musste an euch vorbei. Bin ich dann auch. Hab mich an euch vorbeigequetscht und bin die 328 Stufen hochschlurft, bis da dann irgendwann in einem verwinkelten Flur zwischen geschlossenen Bürotüren und verstaubten Lampen ein merkwürdiger Briefkasten versteckt ist. In den habe ich meinen Bericht geworfen und bin die 328 Stufen wieder hinuntergeplumst. Bin auf dem Weg einem viel zu gestressten Prof von mir begegnet, der gerade noch so „Hallo“ heraus gebracht hat, bevor er die 10 Stufen eines Treppenabsatzes mit drei Sprüngen und fünf Ordnern unterm Arm und einer Kaffeetasse in der anderen Hand zurückgelegt hat. Jedenfalls bin ich nach dem Abgeben dieses Berichtes wieder dort unten angekommen, dort bei euch, zwischen Gebäudeteil F und G und Gamma, dem Aufzug in die Unendlichkeit und dem Treppenhaus zu verstaubten Flurlabyrinthen. Und ihr habt mir schon wieder den Weg versperrt. Wie ist eigentlich der Prof an euch vorbei gekommen? Drübergesprungen?

Ihr standet immer noch da. Selbst ein Blinder hätte gesehen, wie sehr ihr aufeinander steht. Wie verlegen ihr lacht und wie verkrampft ihr versucht, das Smalltalkgespräch irgendwie in die Länge zu ziehen, damit endlich irgendjemand fragt, wie es denn mit nem Treffen aufn Kaffee wäre. Und weil ich die 328 Stufen hoch und die 328 Stufen runter schon über euch gegrinst habe, tue ich euch mal den Gefallen:

„Ey, ihr steht da voll ungünstig, und wenn ihr schon dabei seid, euch wegzubewegen: Trefft euch auf nen Kaffee. Ihr wollt es doch beide.“

Ich sehe die verdutzen Gesichter im Rückspiegel und schaue zu Hause im Briefkasten nach, ob die Hochzeitseinladung schon angekommen ist. Gern geschehen.

Tausendundeine Art

Es war einmal am 3. Januar.

Es gibt tausendundeine Art, sich zu verlieben,
und deine
ist nur eine
davon.
Und meine
ist vielleicht eine andere.

Vielleicht will dich am Ende ja gar nicht. Das weiß ich auch noch nicht. Und vielleicht entscheidest du dich auch anders. So viel vielleicht. So viel vielleicht liegt da vor uns, dass ein Nein so viel wahrscheinlicher ist als ein Ja. So viel sicherer. Vernünftiger. Aber das Leben ist sowieso nicht sicher und vernünftig. Warum also so tun?

Du und ich.

Es gibt tausendundeine Art, sich zu verlieben,
und vor zwei Tagen hast du es gewagt, mich zu berühren, ganz absichtlich und fokussiert und zärtlich. Meine Haare und dann mein Gesicht, hast es nachgemalt, hast mich dabei angesehen, die ganze Zeit angesehen. „Du weißt schon, wie man jemanden um den Finger wickelt, oder?“, habe ich geflüstert. Ein Lächeln zog über dein Gesicht. „Dich. Wie man dich um den Finger wickelt. Nicht jemanden.“ Da war es dann ausgesprochen: Du willst mich um den Finger wickeln und ich lasse mich um den Finger wickeln. In mir war alles kribbelig.

Es gibt tausendundeine Art, sich zu verlieben,
und du liebst die langen Blicke, die langsamen Berührungen und die Stille. Du nennst das Stimmung. Dabei wirst du immer ganz ernst. Und ich, ich mag es verspielt, mag es leicht, und ich genieße deine Berührung, genieße deine Blicke, nur manchmal, manchmal wirst du mir zu intensiv, zu ernst, zu dicht, zu viel, und dann haue ich ab, nur, um gleich darauf wieder zurückzukommen.

Mich kriegst du eher durch die Hintertür. Durch deine Kreativität und deine Unabhängigkeit, deine freigebende Art. Dadurch, wie selbstverständlich du in meiner Wohnung bist und wie ich nie so wirklich weiß, wo du bist, wenn du nicht hier bist. Mich kriegst du durch deine tiefen Fragen und deine ernsten Antworten, durch den Blödsinn in deinem Kopf und deine Art, mich zu ärgern. Vor allem aber kriegst du mich dadurch, dass du es ganz offen versuchst. Ich weiß, was du von mir willst, und ich sehe, wie du dich um mich bemühst. Du respektierst die Grenzen, die ich setze, aber wo ich keine setze, gehst du eben weiter. Und das funktioniert bei mir. Ich fühle mich dann wertvoll und mein Herz wird warm.

Es gibt tausendundeine Art, sich zu verlieben,
und wenn du da bist, wird mir warm. Wenn du weg bist, verwickle ich dich in meine Gedanken. Und seit ich weiß, dass ich dir morgen das zweite Kapitel von Ronja Räubertochter vorlesen und dir dann gute Nacht sagen werde, klopft mein Herz ein bisschen schneller.

Draußen ist die Nacht

Ich wusste nicht, dass du da sein würdest. Ich habe es nicht vermutet und nicht darüber nachgedacht. Ich habe einfach nur Jacke und Schuhe angezogen, den Schlüssel genommen und das Haus verlassen. Dort warst du dann. Natürlich warst du da. Als ich dich gesehen habe und auf dich zugegangen bin, hat es sich irgendwie natürlich und richtig angefühlt, dass du da warst. Als hätte es nie eine andere Möglichkeit gegeben. Wir haben uns umarmt. Du hast dich warm und weich angefühlt. Du hast dich angefühlt, wie nur du dich anfühlst, und jede deiner Umarmungen birgt eine kleine Ewigkeit für mich.

Dein Auto und die Nacht. Ich mag es, neben dir zu sitzen, wenn du fährst. Das Gefühl des Autos, die Straße und die vorbeiziehende Welt. Ich darf gucken und muss mich nicht konzentrieren. Ein kleiner Kosmos auf vier Rädern, in dem es nur dich und mich gibt. Draußen ist die Nacht. Ich mag die Dunkelheit. Ich mag ihr Reden und ihr Schweigen. Mag es, wie sie alles verhüllt, uns verhüllt, alles ein wenig sonderbar macht, uns klein werden lässt und uns das Gefühl für uns selbst zurück schenkt.

Ja, hier in unserem kleinen Kosmos fühle ich mich wieder wie ich selbst. Fühle ich mich wieder ganz real. Ganz bei mir.

Und bei dir.

Regentropfen auf Autoglasscheiben. Du fährst und fährst. Du genießt es, das Autofahren. Ich weiß, dass es dir jetzt gut geht und du ganz entspannt bist. In Gedanken bist du nicht in deinem Alltag und nicht bei mir, sondern einfach nur in dem, was du gerade tust. Du bist einfach nur da. Ich genieße das. Ich genieße dich. Ich genieße, wie du einfach hier bist. Das macht in mir alles weit. Das schenkt mir Raum für alles, was da eben gerade in mir ist. Alle Gefühle, die sonst so zu groß und zu schwer sind und zu dicht beieinander liegen. Alles, was mir Angst macht, verliert sich langsam in der Dunkelheit. Für alle ungeweinten Tränen finde ich in der Nacht und in deiner schlichten Gegenwart Trost.

Weißt du, vielleicht fahren wir einfach noch ein bisschen weiter. Es gibt keinen anderen Ort, zu dem es mich gerade hinzieht. Keinen anderen Trost, den ich gerade bräuchte. Vielleicht fährst du noch ein bisschen weiter und nimmst mich noch ein wenig mit. Lässt aus Minuten Stunden werden, bis die Zeit selbst unwirklich wird. Ich bin so gern bei dir. Ich hab dich so gern.

Ich bin frei.

Da ist ein Junge

Kleine Gedanken eines Abends, an dem ich spät nach Hause gekommen bin und mich ganz friedlich gefühlt habe.

Da ist ein Junge.

Er und ich haben letztens zusammen eine Übung gemacht. Wir sollten etwas ausprobieren. Es war ziemlich lustig und wir haben beide etwas erkannt. Es war ein klitzekleines Erlebnis, das wir nun teilen. Vorher war da eine Aufgabenstellung, nachher war da ein „Er und Ich“.

Da ist ein Junge,

und heute hat er mich angelächelt und auf mich gewartet. Er hat gewartet, bis ich mir meine Jacke und meinen Schal und meine Mütze angezogen hatte, bis ich meine Mappe und meine Flasche in meinen Rucksack gepackt hatte, bis ich den Rucksack aufgesetzt hatte und fertig gewesen war. Dann sind wir beinahe schweigend die halbe Minute bis zu meinem Fahrrad gegangen. Ich hab mich gefragt, ob er auf mich gewartet hat, um mir noch etwas zu sagen. Aber er hat mir nur eine gute Heimfahrt gewünscht. Dann war er weg.

Da ist ein Junge,

und ich bin ein Mädchen. Mit einem Mädchenherz. Ein Mädchenherz, das ein bisschen wärmer und größer wird, einfach nur, weil da ein Junge ist, der mich anlächelt und auf mich wartet.

Ich weiß nicht, ob er etwas sagen wollte und sich nur nicht getraut hat.
Ich finde es gut, dass er nichts gesagt hat. Es gab nichts, was ich hören wollte. Es gab nichts, auf das ich antworten wollte.

Da ist ein Junge, und er hat heute mein Herz warm gemacht und wahrscheinlich keine Ahnung davon. Das ist auch gut so. Ich bin ein Mädchen, und ich bin leicht zu beeindrucken. Aber das braucht ja keiner wissen. Ich lasse mich gerne beeindrucken, und dann behalte ich es für mich.

Ich bin ein Mädchen, und jetzt gehe ich schlafen. Morgen ist ein neuer Tag.

Ein Luftballon aus Licht

Frost liegt über der Stadt. Er durchdringt den Boden, lässt die Luft klirren und die Autos glitzern. Viele Fenster sind warm erleuchtet. Ich pflücke mir eins und laufe mit einem Luftballon aus Licht durch die Straßen. Bäume stehen dort wie stille Tänzer in Startposition, scheinen zu warten auf Musik und Wind und Frühling. Ein paar Jugendliche mit lauten Stimmen verschwinden in einer trüben Einfahrt zwischen steif herab geneigten Häusern. Ein Bus rauscht vorbei und es wird wieder still. Auf dem Asphalt schimmern kleine Eiskristalle weiß im Laternenlicht.

Ich fühle mich, als würde ich durch ein Gemälde laufen. Oder durch ein Gedicht. Meine Hand wird kalt und ich nehme die Schnur meines Luftballons aus Licht in die andere Hand.

Es ist still. Diese Stille ist so schön, weil niemand sie füllen muss. Alles, was ist, ist schon genug: Die Fenster, die Bäume, die Straßen, der Frost. Dazwischen laufe ich. Ich muss lächeln, weil ich mich an die Reaktionen anderer Menschen auf solche Gedankenbilder erinnere, wenn ich es doch mal gewagt und sie ausgesprochen habe. „Typisch Sina: Bäume sind auf einmal Tänzer, erleuchtete Fenster kann man pflücken und die Welt ist ein Kunstwerk.“ Aber so ist es nunmal auch! Es ist eben eine stille Freude. Ich erdenke Farben und Stimmung und Worte und umspinne damit die Stadt und die Straßen. Mein Publikum ist mein Herz. Alles hier ist sich selbst genug, und in diesem Moment bin ich mir das auch.

Zuhause, ich komme zu Hause an. Ich lasse meinen Luftballon in den Nachthimmel steigen und sehe ihm nach, bis ich ihn von den Sternen nicht mehr unterscheiden kann.

Eine kleine Runde

„Wollen wir echt noch rausgehen? Ist schon ziemlich spät.“
Wir betrachten gemeinsam den digitalen Wecker, der 23.12 anzeigt.
„Vielleicht noch ne kleine Runde oder so.“

Kurz darauf ziehen wir die Haustür hinter uns zu und laufen los. Industriegebiete und Wälder um Mitternacht – kein Problem, wenn man einen Mann dabei hat. Ich fühle mich sicher. Mit jeden Schritt lasse ich ein bisschen Schreibtisch, Uni, Stress hinter mir. Mit jedem Schritt lockern meine Gedanken etwas mehr auf. Mit jedem Schritt wird diese Gegend ein bisschen mehr mein Zuhause.

Sieben Kilometer und unzählige Worte später. Wir sind auf dem Rückweg. „Was war für dich am schwersten daran, umzuziehen und ein Studium anzufangen?“, fragt er. Ich habe ihn kurz vorher dasselbe gefragt. Jetzt bin ich dran mit antworten. Ich muss überlegen. Die letzten Monate waren viel. Sie waren aufreibend und ein einziges Durchhalten. Sie waren schmerzhaft.

„So viel zu verlieren“, sage ich. Ich erahne sein Nicken in der Dunkelheit. Er kennt meine Geschichte, war die letzten Wochen nah dran.

„Immer, wenn man was verliert, ist da auch ne Chance drin. Was Neues kann kommen.“

Mir wird der Moment bewusst, den ich gerade erlebe. Wir haben beide keine Uhr und kein Handy dabei, aber es ist sicher irgendwann nach eins. Wir laufen durch die Wiesen zurück in Richtung Stadt. Eine Autobahnbrücke erhebt sich weit über uns. Die Dunkelheit umgibt uns wie ein schützender Mantel. Es ist kalt, aber der Wind bläst meinen Kopf frei. Ich muss lächeln.

„Ja. Inzwischen sehe ich das auch. Ich bin froh, hier zu sein.“

Am Ende sind es 10 Kilometer, bis wir wieder bei ihm vor der Haustür stehen. Er ist völlig platt. Meine Füße tun weh. „So viel zu nur eine kleine Runde“, kommentiert er grinsend.

„Danke“, sage ich.