Fassadenkultur

Aus dem Malaysia-Archiv

Es ist eine Beziehungskultur, hieß es. All die Schamkulturen – die größten Teile von Afrika, Asien – sind Kulturen, wo Beziehung sehr hoch steht, höher als bei uns. Sind gastfreundlicher. Wärmer.

Mir ist hier kalt.

Ich komme mir vor wie in einer eingespielten Choreographie. Ja, auf den ersten Blick ist da diese Gastfreundschaft, und wir werden eingeladen. Die Menschen reden mit uns, sind neugierig, und es scheint, als wären die Menschen hier bei weitem nicht so fremdenabweisend wie bei uns.

Aber dann fühlt es sich an, als würde der Ruf und die Fassade wichtiger geachtet werden als eine Beziehung. Nicht ehrlich wird dem anderen das Herz und die Gefühle gezeigt, sondern immer nur die Fassade, die Fassade, und man schleicht um die des anderen vorsichtig herum, um sie ja nicht zu zerstören – das ist Respekt – und erwartet auf der anderen Seite dasselbe für sich.

Respekt, das kommt auch aus Hierarchie. Und wir, wir sind ganz unten, denn wir sind neu, sind deutsch, sind anders, kommen als die Freiwilligen. Auf die anderen herabzublicken, das ist hier nicht arrogant. Das ist normal, sobald man höher steht. Ganz unten zu sein, das heißt, sich von allen alles sagen lassen zu müssen. Das heißt, keine Bewegungsfreiheit zugestanden zu bekommen. Das heißt, nicht gesehen und wertgeschätzt zu werden in seinen Stärken oder geschweige denn ihnen entsprechend eingesetzt zu werden – das steht uns noch nicht zu.

Etwas verwirrt haben wir uns am Anfang umgeschaut, als keiner uns für unseren Einsatz wertgeschätzt, respektiert oder uns gedankt hat. So ist Deutschland: Bitte bitte setz dich ein, wir brauchen dich, und tausend Mal danke und du hast das so gut gemacht. Aber hier ist es anders. Hier tut man und tut und das Feedback bleibt aus, aller Einsatz und Arbeit wird für selbstverständlich genommen und gelobt wird nur ganz selten.

Deutschland ist so warm.

Von außen mag es kälter erscheinen – Fremden gegenüber wird mehr auf Distanz gegangen. Distanz ist in Deutschland ein Zeichen von Respekt. Kritisiert wird so viel offener, manchmal ohne Rücksicht auf die Gefühle des anderen.

Aber auch gelobt, ermutigt wird so viel offener. Ehrlichkeit steht so viel höher im Kurs, und die ganze eingespielte Choreographie von Malaysia gibt es bei uns nicht so sehr. Ich habe das Gefühl, so viel schneller nah an Menschen heran zu kommen, denn Ruf und Fassade stehen nicht so sehr im Weg. Und man lässt einen jungen Menschen, der sich einsetzen will, tun. Junge Leute können Leiter werden und kreative Ideen haben einen Platz und werden wertgeschätzt. Kritik dient zum Verbessern der Effektivität.

Deutschland ist ein Land mit einer hohen Arbeitsmoral. Bei uns muss alles effektiv erledigt werden. In seinem Job arbeitet der Deutsche vergleichsweise hart. Dann kommt er nach Hause und ruht sich aus. Der Job ist vorbei. Feierabend. Die Zeit für sich selbst wird von anderen geachtet, und nimmt man sie für irgendwelche Versammlungen in Anspruch, so sorgt man dafür, sie so kurz und effektiv wie möglich zu halten – so respektiert man den anderen.

Hier ist man viel freier, diese Zeit anzurühren. In ihrem Job arbeiten Malaysier nicht so hart. Effektivität ist zwar ein Thema, aber es ist wie eine Fremdsprache, die sie erst erlernen. So tun sie oft Dinge, die nicht so richtig zielführend sind. Malaysier sind länger auf der Arbeit, haben mehr Versammlungen, sind viel mehr unterwegs. Sie wissen nicht, wie man sich ausruht. In ihrem Selbstbild arbeiten sie unglaublich hart. Den ganzen Tag! Mehr als Deutsche. Die wollen sich ja ausruhen.

Wir Deutsche widersprechen nicht.

Malaysia ist ein Land der Fassade, und so wie der Ruf dazu gehört und mehr angesehen wird als der Mensch als ganzes, so tun sie es auch in der Medizin. Beschwert sich der Körper durch irgendwelche Schmerzen, ist im Körper etwas falsch. Dass der Mensch als ganzes funktioniert und die Seele sich auf den Körper und umgekehrt auswirkt, das wissen sie hier nicht wirklich. Auch, woran man den Wert eines Menschen misst. Hier bringen sich Schüler wegen zu schlechter Zeugnisse um, denn es wird mit viel Druck gearbeitet, und die Eltern, die ja in der Hierarchie viel höher stehen, erwarten gute Noten. Die Noten messen den Menschen.

Es soll eine Beziehungskultur sein, ja, aber es fühlt sich an, als wäre es hier nur von außen warm. Jetzt, wo ich langsam ein bisschen beginne, hineinzukommen, wird es ganz kalt hier. Vielleicht wird es ja wieder warm, wenn man wirklich dazu gehört. Ich weiß es nicht.

Eine Fassadenkultur, und ich stehe nur davor.

Reflexionen

Oder: Vom Wissen um den Schmerz

Hätte ich das alles schon vorher gewusst, dann wäre ich nie gegangen.

Hätte ich all die Tränen, den Schmerz, die Anstrengung vorher schon gekannt, schon gewusst, was „Heimweh“, „Kulturschock“ und „Überforderung“ wirklich bedeuten, dann wäre ich einfach zu Hause geblieben. Dann hätte ich mir das alles nicht angetan. Ich hätte mir einfach ein normales Leben in Deutschland ausgedacht und das mal gemacht. Ich würde jetzt deutsches Brot mit Nutella essen, statt Smog einen Himmel sehen und bei Bedarf meine Freunde besuchen fahren.

Und doch: So viel Wertvolles ist schon passiert, seit ich hier bin. Momente, in denen ich festgestellt habe, dass ich mir so viel mehr zutrauen kann als ich dachte. Den Abstand nach Zuhause, der mich innerlich aufräumen und leer vor Gott kommen lässt. So viele Beobachtungen über Kultur, Menschen und mich.

Es ist ein altes, wunderbares Prinzip vom Leben: Hätte man all den Schmerz vorher schon gekannt – man weiß nicht, ob man sich aufgemacht hätte. Doch am Ende ist man so froh, durch all das hindurchgegangen zu sein.

Ich bin froh, dass ich gefahren bin. Ich bin froh, jetzt hier angekommen zu sein. Und ich bin froh, dass ich all den Schmerz der nächsten Tage und Wochen und Jahre noch nicht kenne, sodass ich voll Zuversicht weiter gehen kann.

Komm mit, Sina

Komm mit, Sina. Alles wird neu und alles wird groß.

Ich fühle mich klein. Klein vor all dem, was passiert und was ist. Klein vor einer großen Stadt mit einer fremdem Kultur. Klein vor fremdem Essen, fremdem Klima, fremdem Schlafrhythmus. Klein vor vielen neuen Aufgaben und Erfahrungen. Klein auch vor den Menschen zu Hause und wie ich mit ihnen umgehen soll. Klein vor den Menschen, die irgendwas noch angesprochen, eingefordert oder gestanden haben in den letzten Tagen vor meiner Abreise. Klein vor diesem ganzen großen Leben.

Nachts um drei wache ich auf wegen Jetlag. Die zweite Nacht in Folge. Nicht alleine. Irgendwer trifft sich auf dem Klo immer.

„You need to rest“, sagen sie uns immer wieder, und trotz all den Pausen geht alles so schnell, und der Weg ist noch so weit, so steinig. Ich fühle mich klein vor diesem Weg. Alles wiegt schwer, als müsste ich all das Kommende jetzt schon aushalten.

Ich liege im Bett, nachts um drei, und fühle mich klein, aber mal anders klein. Fühle mich klein, und muss ja auch gar nicht alles können. Sind ja Menschen da, sie sich kümmern, die verstehen. Ist ja ein Gott da, der mein Herz nicht übergeht. Fühle mich klein und geborgen, weil Papa das ja eh macht. Ich muss das ja nicht alles tragen können. Muss ja gar nicht alle Menschen zufrieden stellen. Muss ja gar nicht alles perfekt machen. Bin ja so schon wertvoll und geliebt.

Die Erinnerung daran, dass ich nicht auf dieser Welt bin, um Erwartungen zu erfüllen.

Komm mit, Sina. Alles wird neu und alles wird groß, und du darfst klein sein und darfst wachsen.
Und es wird gut sein.

Gesucht.

Menschen, die mich herausfordern.

Menschen, die mich spiegeln, mir sagen, was falsch läuft. Nicht welche, die mich einfach irgendwie kritisieren, nee. Ich meine solche, die es wirklich wirklich gut mit mir meinen und mir gerade deshalb ehrlich die Schwachstellen zeigen.

Ich meine so Leute, die es abkönnen, wenn ich mich total aufrege, und die mich unzufrieden nach Hause gehen lassen können, weil sie wissen, dass ich daran wachsen werde. Ich meine diese Menschen, die bewusst Konflikte provozieren, um einen damit voranzubringen. Die manchmal meine Fragen nicht beantworten, weil sie wissen, dass ich es selbst lernen muss.

Und die es trotzdem immer gut mit mir meinen. Die sensibel und voller Liebe sind. Bei denen ich mir sicher sein kann, dass sie mir nichts Böses wollen. Menschen, die wirklich an mir und meinem Vorankommen interessiert sind.

Wisst ihr eigentlich, wie selten solche Menschen sind?

Ich wachse mir selbst hinterher.

„Sina, was glotzt du so in die Luft?“

„Ich wachse. Ich wachse mir selbst hinterher. Meinen Aufgaben, meiner Verantwortung, meinen Gefühlen. Den Situationen, mit denen ich konfrontiert werde. Den ganzen Themen und Fragen, mit denen ich irgendwie umgehen muss. Meinen Entscheidungen. Ich wachse meinen Entscheidungen hinterher, ja. Vor allem aber mir selbst, und dem, was ich zu sein scheine.“

„Ähm … … … jaaa …“