Mein Zimmer, meine Heimat

„Was machen wir eigentlich mit Sinas Zimmer, wenn sie weg ist?“, stellt mein Bruder beim Mittagessen in den Raum.

Mein Zimmer.

Mein Zimmer, mein allersicherster, allergeschütztester Raum. Mein Reich, wo ich einfach machen kann, was ich will. Wo ich sein darf, wie ich will. Wo ich Menschen ganz nach Belieben reinlassen und rausschicken kann. Den Ort, den ich ganz genau so gestalten kann, wie ich ihn am allerliebsten mag. Wo ich mich entspanne und bete und Zeit vergeude und Klavier spiele und lese und schlafe und arbeite und weine und schreibe. Der Ort, an den ich immer und immer wieder zurück kehre, zurück kommen kann. Hier gehöre ich hin. Diesen Ort vermisse ich, wenn ich länger weg bin. Auf diesen Ort freue ich mich, wenn ich nach Hause komme. Meine Oase, meine Basis, mein Stützpunkt für mein ganzes Leben. Schon fast ein Teil von mir. Mein Zimmer.

Ich weiß, dass den meisten anderen Menschen so ein räumlicher, ganz eigener Rückzugsort bei weitem nicht so wichtig ist wie mir. Wenn ich auf irgendeiner Freizeit bin, ist es mir total wichtig, schnell meinen Schlafplatz zu kennen und kurz eingerichtet zu haben. Erst dann habe ich Kraft für alles andere, denn dann weiß ich: Hierhin komme ich zurück. Hier habe ich meinen Platz.

Und mein Zimmer, mein Zimmer ist Basis und Krönung von alledem. Ich habe dieses Zimmer seit der ersten Klasse. Ich brauche es. Ich muss doch wissen, dass es noch da ist und ich wieder dahin kommen kann. Es ist der eine Ort, der bleibt.

Meine Familie beginnt derweil um das Zimmer zu feilschen. Mein Bruder will vielleicht doch lieber aus seinem Wandverschlag raus und endlich mal ein Zimmer haben, in das auch sein Kleiderschrank passt. Mein Vater will weg von dem Zimmer mit dem Straßenlärm und der langen Wand zum Flur. Meine Schwester überlegt, ob mein Zimmer vielleicht doch größer ist als ihres, will aber doch in ihrem bleiben. Das Klavier soll zurück ins Wohnzimmer wie früher. Das kann keiner gebrauchen.

Ich atme durch. Eigentlich, so ganz rational gesehen, dürfte mir das egal sein. Ich bin nicht einmal im Land – was sollte es mich da stören, dass mein Zimmer anders verwendet wird? Ich bin doch eh nicht da, werde nicht einmal zu Besuch kommen können. Frühstens in einem Jahr könnte ich es wieder brauchen, und selbst dann nur für ein paar Wochen oder Monate. Wie blödsinnig wäre das denn, mein Zimmer so lange einfach brach liegen zu lassen?

Trotzdem. Etwas in mir schmerzt und bricht bei dem Gedanken an den Verlust meines Zimmers. Ich will das nicht. Es soll bleiben.

Und wie das manchmal so ist, macht es auf einmal wie so ein kleines ‚Klick‘. Es ist, als würde man über eine Grenze kommen und auf neuem Boden stehen.

Es ruft mich raus in neue Zeiten, neue Welten, und da brauche ich dieses Versteck nicht mehr. Ich kann es loslassen, denn es wird alles neu. Mein Zimmer war und ist derzeit noch meine äußere und innere Heimat, doch ich bin auf dem Weg zu neuen Heimaten, neuen Welten, neuen Abenteuern. Irgendwo macht es auch Spaß, all das Alte freimütig aufzugeben. Es lässt mich frei fühlen, mein Zimmer loszulassen. Etwas reizvolles liegt darin. Wenn es diese Basis nicht mehr gibt, brauche ich auch nicht zu ihr zurück kommen. Dann kann ich auch gleich weit, weit weg gehen und alles anders machen.

„Naja, das schauen wir dann, wenn es soweit ist“, schließt meine Mutter die Debatte um das Zimmer, indem ich derzeit noch bin. Und es ist okay. Ihr dürft es haben. Ich gebe es frei.

Eine Begleiterscheinung

Mit dem älter werden kam eine wundervolle, anstrengende und denkwürdige Begleiterscheinung: Jungs. Männer. Ihr wisst schon, diese Menschen mit Haaren am Kinn und Flausen im Kopf, die lieber über Themen als über Menschen reden und von uns Mädels keine Hilfe annehmen können. (Wobei das natürlich mehr eine pauschalisierte und unzureichende Indiziensammlung als eine auch nur ansatzweise akzeptable Definition von Männern ist.)

Ja, irgendwie gab es die ja auch schon vorher, aber da waren die noch anders: Blöd. Oder so alt, dass sie mehr als Onkel durchgingen. Ich meine, ja, blöd sind die immer noch irgendwie, aber damals waren sie nur blöd. Und heute sind sie so viel mehr. Heute machen sie so viel mehr mit mir.

Heute habe ich Schwierigkeiten, auf meine Gedanken, meine Fantasie und mein Herz aufpassen, wenn da mal jemand ein bisschen zu wundervoll für meine aktuelle Verfassung ist. Heute gibt es diese Momente in Gegenwart gewisser männlicher Gestalten, in denen ich krampfhaft auf mein eigenes Verhalten achte, nichts dagegen tun kann und mich dabei ziemlich dämlich fühle. Heute brauche ich gelegentlich mal eine beste Freundin oder ein vertrauliches Notizbuch, um mein ganzes Gedankenchaos in Bezug auf diese sonderbare Sorte Mensch loszuwerden.

Heute muss überlegen, was ich dann mit all dem mache. Ich muss herausfinden, wie nah zu nah ist – emotional. Körperlich. Ich muss mich damit auseinandersetzen, wie das ist, wenn jemand mich auf eine Weise anziehend findet, die ich nicht erwidern kann – oder andersrum. Ich muss einüben, meine Grenzen einzuhalten – die Grenzen, die ich mir gesetzt habe, um mir Zeit zu geben, mich zu schützen, und manchmal auch einfach nur, um mich hinter ihnen zu verstecken, die Decke über den Kopf zu ziehen und so zu tun, als würde ich für die Männerwelt nicht existieren.

Heute darf ich es genießen, schön genannt zu werden, und es einfach mal zu glauben. Ich darf Spaß daran haben, Jungs zu Wortgefechten herauszufordern. Und immer mal wieder vertraut mir einer und lädt mich ein in seine echte, ungeschönte Welt, gibt mir Zugang und erlaubt sich, vor mir verletzlich zu werden, und das sind mir die kostbarsten Momente.

Und ja, ich weiß, dass ich noch keine Ahnung habe. Ja, mir wurde schon gesagt, dass ich da ein bisschen naiv bin. Aber das ist okay! Ich weiß genug für jetzt und da sind Leute an meiner Seite, die auf mich aufpassen.

Also werde ich weiter älter, erwachsen, und lerne umzugehen mit dieser Begleiterscheinung, versuche sie zu verstehen und lerne allmählich dazu.

Die Sina wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht.

Ach, wisst ihr was?

Ihr könnt mich alle mal mit eurem Erwachsenen-Scheiß und euren Erwartungen.

Ich spreche zu euch und noch viel mehr zu mir selbst.

Ich bin 16, verdammt noch mal, 16. Das ist doppelt so alt wie 8 und halb so alt wie 32. Die 18 ist noch weit weg. Ich bin jugendlich, zwischen Kind und erwachsen und davon frei. Ich will das zelebrieren, feiern, genießen.

Ich werde nicht vernünftig sein, denn das ist doch auch nur ein Synonym für „unschädlich“. Ich werde meine Fehler zelebrieren, denn sie sind Teil meines Wachstums und Zeichen meines Mutes. Ich werde mich nicht in eure Absicherungsstrategien und Zukunftsplanereien verstricken lassen, denn das hab ich nicht nötig.

Auch wenn ihr noch so sehr meine Reife lobt, macht mich das doch keinen Tag älter als ich bin. Ich bleibe 16, denn sowohl das Gras als auch die Sina wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Ich passe mit meiner Mischung aus Reife und Jugend, aus Weisheit und Leichtsinn nicht in euer Schema – na und?

Mich gibts nur so, wie ich jetzt bin, Pech gehabt!
Mich gibts nur mit 16 Jahren, leichtsinnig und wild, mit Fehlern und Fehlern und stur, unvernünftig und frei. Und vollkommen richtig so. Hier bin ich, und ich tanze euch auf der Nase herum.

Es macht keinen Sinn, das nicht zu akzeptieren. Ihr braucht mich nicht wie eine ältere Person behandeln. Ihr werdet mich nicht dazu kriegen, so zu denken wie ihr. Ihr könnt mich nicht verändern.

Es ist nicht einmal das Ziel, erwachsen zu werden.

Ich streife die Ketten eurer Erwartungen und meines Selbstbildes ab und bin frei.
Ich habe die Macht, gnädig mit mir zu sein.
Ich habe den Mut, jung und wild zu sein.
Ich habe das Recht, die bedrückenden Lasten der Verantwortung zurückzuweisen und nur zu tragen, was mich nicht beschwert.

Ob es gefällt oder nicht, ob verstanden oder nicht.

Hier bin ich – guten Tag.

Ein kleiner Ausbruch

Ich stehe mit Lea, einem Mädchen aus meiner Stufe, in der Schlange vor den Schulklos. Lea gehört zu den schüchternsten Mädchen, die ich kenne. Wenn man sich mit ihr unterhält, wirkt sie oft befangen. Trotzdem hat sie eine schöne, irgendwie … reine Ausstrahlung. Na ja, jedenfalls stehen wir so da und sehen uns in den Spiegeln gegenüber an.

Eine Weile sagt keiner von uns beiden was. Unsere Spiegelbilder mustern uns kritisch. Dann platzt es plötzlich ganz unvermittelt aus ihr raus.

„Ich will nicht die Pille nehmen wegen meiner Haut.“

Ein bisschen überrumpelt fühle ich mich schon, aber zum Glück schalte ich ausnahmsweise mal ziemlich schnell.

„Das wurde mir auch schon mal empfohlen. Ich machs auch nicht.“

Sie nickt. „Ich meine, ich will doch keine Hormone nehmen wegen meiner Haut oder so. Jeden Tag.“

„Nee. Finde ich auch Quatsch. Und ganz ehrlich: Wir habens beide auch nicht wirklich nötig, oder?“

„Nee.“

Sie lächelt mich zufrieden mit der Unterhaltung an, die Schlange rückt weiter und eine Sekunde später ist der Moment und das Gespräch vorbei.

Ein winzig kleiner, verbaler Ausbruch in der Schlange vor den Schulklos, sonst nichts. Und doch: Es war ihr wichtig, das loszuwerden, das zu teilen, und ich habe ihr zugehört. Dieser Moment hat einen Unterschied gemacht.