Ein bester Freund

Ein Text aus November 2018.

Ich hatte einmal einen besten Freund. Er war der erste Junge, der mir so richtig nahe stand. Er war ein wenig älter als ich, aber das macht in der Pubertät nichts aus, weil Mädchen sich da ja ein bisschen früher entwickeln. Wir haben uns gegenseitig die Mädchen- und die Jungenwelt erklärt und uns geprägt, was den Umgang mit dem anderen Geschlecht anging. Wir waren Vertraute.

Wenn es mir schlecht ging, bin ich zu ihm gegangen. Er konnte genau das, was ich damals am meisten brauchte: Der Fels in der Brandung sein, eine unerschütterliche Zuversicht vermitteln und bedingungslos loyal sein. Damals dachte ich, alle Männer könnten das. Später habe ich schmerzhaft gelernt, dass ich damit gravierend falsch liege. Mein bester Freund war da etwas ganz besonderes.

Wir waren zusammen unterwegs. Sind viele Schritte gleichzeitig gegangen und haben uns darüber ausgetauscht. Ich bin gerne vorgerannt, mit dem Kopf durch die Wand. Er kam dann irgendwann in langsamem, gleichmäßigen Tempo hinterher und hat mich aufgesammelt, wenn ich erschöpft irgendwo liegen geblieben bin. Und dann haben wir es zusammen zu Ende gebracht.

Dieser beste Freund war mein Bruder.

Alles veränderte sich, als eine andere Frau in seinem Leben auftauchte. Eine andere beste Freundin, und es wurde seine feste Freundin und seine Verlobte und seine Frau. Niemand hat mich darauf vorbereitet, was das für mich bedeuten würde, wenn das einmal passiert. Ich hatte keinen Plan, kein Konzept für diese Situation.

Seine Loyalität und seine Aufmerksamkeit galt nun einer anderen. Jetzt fragte er nicht mehr nach mir, sondern nach ihr. Ich kam nicht mehr vor. Ich versuchte, irgendetwas aufrecht zu erhalten, weiterhin jemand für ihn zu sein, aber ich schien vor eine Wand zu laufen. Ich verlor meinen besten Freund.

Das machte mich wütend und bitter und kostete mich zu viel Schlaf. Wenn man darüber nachdenkt, wie gemein und scheiße eine Situation ist, dann kann man nicht gut schlafen. Sie nahm ich in dem ganzen Prozess gar nicht so wirklich wahr. Ich sah nur, wie sich mein Bruder veränderte und wie ich kaum noch Teil von seinem Leben war.

Aber hier ist das Ding: Er ist mein Bruder. Viel kann sich ändern im Leben, aber nicht, wer deine Geschwister sind. Nicht deine Vergangenheit. Wir sind zusammen aufgewachsen und wir sind Vertraute gewesen. Das ist etwas, das uns immer verbinden wird. Mir bedeutet das was.

Und ich weiß, ihm bedeutet das auch etwas.

Und sie bedeutet ihm etwas, bedeutet ihm unendlich viel, und ich beginne mehr wahrzunehmen, wer diese neue Frau an seiner Seite ist. Ich sehe an manchen Ecken, wie sehr sie mir ähnelt. Dieser Fels und diese Loyalität, das, was ich so brauchte, und was er mit mir eingeübt hat, ist genau das, was sie braucht. Ihr Humor ist ein wenig anders, aber wenn sie sich aufregt, klingt sie wie ich. Und wenn mein Bruder sie erdet, klingt er so, wie er immer mit mir geredet hat.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich dadurch vielleicht ein kleiner Teil von dem bin, woraus ihre Ehe besteht. Vielleicht in dem Sinne, dass ich ein wenig mitgeprägt habe, wer er nun als Ehemann ist. Ich stelle mir vor, dass da irgendwo ein Punkt ist, an dem ich wichtig bin.

So lange habe ich darum gekämpft, irgendwie möglichst wichtig zu bleiben. Ich war so traurig, dass diese Freundschaft zu meinem Bruder so viel Nähe, Zuverlässigkeit und Vertrautheit verloren hat. Dass er mich nicht mehr brauchte und nicht mehr auf mich aufpasste wie früher.

Aber immer mehr habe ich gelernt, dass ich für immer seine Schwester bleiben werde. In seinem Herz wird ein besonderer Platz für mich bleiben. Auch wenn dieser Platz sich verändert. Auch wenn er kleiner geworden ist. Der Platz ist da. Er ist immer noch mein Bruder.

Ein Bruder, der nun ein Ehemann ist. Irgendwann kommt der nächste Schritt und aus Ehemann wird Familienvater. Ich will ihn dabei anfeuern. Ihn und seine Frau, die nun seine beste Freundin sein darf. Da ist nun ein Ihr, denn meistens habe ich nun mit ihnen beiden zu tun. Sie gehören zusammen. Und da ist ein Wir, wo wir drei die Welt dann doch erstaunlich ähnlich sehen.

Ein Wir und ein Ihr und ein Ich. Ein Ich.

Ich habe einen Bruder, und er ist noch immer mein Freund.

Über eine unbeabsichtigte, wunderschöne Ermutigung

Letztens, da habe ich einen Menschen von früher wiedergetroffen und ihn ein wenig erlebt. Ich habe gestaunt. Ich habe gestaunt darüber, wie er sich entwickelt hat, wie er sowohl stärker als auch sanfter geworden ist und wie souverän er heute mit Situationen umgeht, die früher ein Problem gewesen wären. Ein Mensch, den ich früher schon mochte, und der jetzt noch schöner und attraktiver geworden ist. Ich habe gestaunt und mich gefragt:

Bin ich auch so?

Sehen andere mich und staunen auch?

Ist da etwas, auf das ich stolz sein kann? Gefällt es mir, wie die letzten Jahre mich verändert haben?

Es gibt Fragen, die sind wertvoller als ihre Antworten. Das hier sind solche Fragen für mich. Ich stelle sie nicht, um sie zu beantworten. Ich stelle sie, um aufmerksam zu bleiben. Damit ich so lebe, dass es sich gut anfühlt, zu zeigen, wer ich geworden bin.

Lieber Mensch, den ich wiedergetroffen habe: Danke. Danke dafür, dass du so wächst und immer schöner wirst. Ich weiß, das klingt komisch, aber damit machst du mir Mut. Damit spornst du mich an.

Mittendrin

Ich bin kein Roman, kein Film, kein Lied. Bei mir gibt es keine Geschichte, die von einem Anfang und einem Ende gesäumt ist. Bei mir gibt es keine Probleme oder Konflikte, die in einem dramatischen Spannungsbogen aufgebauscht und dann zu einer Lösung gekommen sind.

Bei mir gibt es nur meine vielen kleinen Geschichten, die irgendwie nie zu Ende gehen wollen, ihren Weg immer weiter schreiben, oft in vielen unauffälligen Momenten.

Ich kann nicht sagen – dieses Thema, dieser Konflikt, das ist jetzt Vergangenheit und das war die Lösung. Alles lebt weiter, weiter, und ich würde gerne erzählen, als wäre alles vorbei, doch ich weiß oft nicht einmal, wo der Höhepunkt der Handlung gelegen hat. Oder ob er noch kommt.

Wie oft kommt das immer selbe noch hoch? So leicht geht es in Filmen, dass Mädchen verstehen, dass sie eigentlich wertvoll sind. Dass zwei Menschen zusammen kommen und glücklich sind. Dass Beziehungen zu Eltern geheilt sind. Dass Menschen ihren Platz in der Welt gefunden haben.

Und die Figuren leben glücklich in ihrem Happy End, bis sie tot sind.

Aber ich, ich trage immer neue Schlachten aus, in meinen Gedanken, in neuen Situationen, und die kleinen Siege bleiben beinahe unsichtbar. Es gibt keine großen Taten, die mich zur Heldin machen würden. Keine abgeschlossenen Geschichten. Nichts, nachdem man den Vorhang zuziehen könnte, den Abspann durchrollen, die letzten Töne ausklingen lassen könnte.

Ich habe keine Geschichten zu erzählen. Ich habe nur Geschichten zu leben. Ich bin mittendrin, mittendrin.

Und alles, was ich tun kann, ist weitergehen und dich fragen, ob du meine Hand nehmen und dabei sein willst.

Fußabdrücke auf Wegen des Lebens

Fußabdrücke auf Wegen des Lebens, leuchtend und aus der Ewigkeit, und ich sehe und gehe weiter. Wo Fackeln an Straßenrändern leuchten und sich in der Dunkelheit heimlich weiße Blüten öffnen, da nehme ich meine Kapuze ab und atme die Schönheit ein.

Ich liebe diese geheimen, unberührten Orte, geschaffen nur aus einem Hauch der Wirklichkeit und einem Fluss der Gedanken und Gefühle. Meine Träume finden hier ihren Weg und mein Inneres ein Zuhause.

Fußabdrücke, und ich sehe und folge ihnen, lasse mich leiten in die unbekannten Schatten. Sicherheit ist keine Frage von Kontrolle, sondern von Vertrauen. Es gibt keinen sichereren Ort für mich als hier in dieser Dunkelheit, denn ich weiß, wer bei mir ist. Fackeln trage ich in meinem Herzen und meine Seele blüht, während meine Füße über Steine gehen, die aus Unendlichkeiten stammen.

Ich genieße, genieße das Gefühl eines langen, schwingenden Mantels. Genieße es, mit großen Augen in der Dunkelheit nach Schemen und Formen zu suchen. Genieße das kleine, aufgeregte Kribbeln bei mutigen Schritten auf ungewissem Boden. Genieße die Ruhe in mir.

Fußabdrücke auf Wegen des Lebens, und ich folge ihnen.

Es ist unwirklich und echt zugleich.

Hinterfragt und aufgewacht

„Aber warum wollen Sie sich denn verändern?“,

fragt mich mein ehemaliger Deutschlehrer auf der Abiturentlassungsfeier. Was diesen Menschen unter anderem ausmacht, ist sein Hinterfragen von Dingen, die sonst irgendwie keiner hinterfragt. Ich habe ihm gerade von meinem Auslandsjahr erzählt und nebenbei erwähnt, dass ich verändert zurück kommen will. Und dann stellt er mir diese Frage.

Und ich bin sprachlos.

Irgendwie war das immer einfach so klar. Auslandsjahr heißt sich entwickeln. Alle sagen immer, so etwas ist total die prägende Zeit und so. Ich wollte das einfach auch.

Ich merke, wie unzufrieden ich mit mir bin. Die Art und Weise, wie ich mich benehme, wie ich wirke, wie ich mit meinen Gefühlen umgehe, was für eine Freundin oder Schwester ich bin, mein Egoismus, mein Trotz, mein Selbstwert… Das ist alles noch nicht so, wie ich das will. Ich bin das oft nicht gerne. Ich will mich entwickeln, um zufriedener mit mir zu sein. Außerdem kann man mit einem Auslandsjahr gut angeben und dann kriege ich Anerkennung. Auch das macht dann, dass ich zufriedener mit mir bin.

Irgendwo in mir zieht etwas ziemlich skeptisch die metaphorische Augenbraue hoch.

‚Warum wollen Sie sich denn verändern?‘, klingt es nach in meinem Herz. So viel, was in dieser Frage mitschwingt.

So viel Wertschätzung. So viel: ‚So, wie du bist, ist es doch gut.‘ Und auch, wenn mir das nicht zwingend gefällt, macht diese Wertschätzung sehr viel mit mir. Aber da ist noch mehr. Diese schlichte Frage malt ein großes Fragezeichen hinter mein immer weiter kommen wollen, immer reifer werden wollen. Hinter meine rastlose Jagd nach dem, wer ich gerne wäre, aber einfach nicht bin. Hinter meine Selbstkritik.

Ich seufze. Kaum hat man mal was, was ausnahmsweise mal alle toll finden, und schon taucht ein fast vergessener Mensch auf, stellt alles in Frage und hat damit auch noch Recht.

Natürlich werde ich gehen. Ich glaube, ich muss nur vorher noch mal gründlich bei meinen Motiven aufräumen.

Als ich mich später von meinem Lehrer verabschiede, sagt er zu mir: „Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit und verändern Sie sich nicht zu sehr!“ Ich grinse. „Ich werd mich bemühen!“ Und dann ist er weg, der weise alte Denker mit seinen Fragen, lässt mich zurück mit einer gesunden inneren Unruhe – einer Unruhe, die weiß, dass Selbstannahme nicht auf Veränderung beruhen kann.

Mein Zimmer, meine Heimat

„Was machen wir eigentlich mit Sinas Zimmer, wenn sie weg ist?“, stellt mein Bruder beim Mittagessen in den Raum.

Mein Zimmer.

Mein Zimmer, mein allersicherster, allergeschütztester Raum. Mein Reich, wo ich einfach machen kann, was ich will. Wo ich sein darf, wie ich will. Wo ich Menschen ganz nach Belieben reinlassen und rausschicken kann. Den Ort, den ich ganz genau so gestalten kann, wie ich ihn am allerliebsten mag. Wo ich mich entspanne und bete und Zeit vergeude und Klavier spiele und lese und schlafe und arbeite und weine und schreibe. Der Ort, an den ich immer und immer wieder zurück kehre, zurück kommen kann. Hier gehöre ich hin. Diesen Ort vermisse ich, wenn ich länger weg bin. Auf diesen Ort freue ich mich, wenn ich nach Hause komme. Meine Oase, meine Basis, mein Stützpunkt für mein ganzes Leben. Schon fast ein Teil von mir. Mein Zimmer.

Ich weiß, dass den meisten anderen Menschen so ein räumlicher, ganz eigener Rückzugsort bei weitem nicht so wichtig ist wie mir. Wenn ich auf irgendeiner Freizeit bin, ist es mir total wichtig, schnell meinen Schlafplatz zu kennen und kurz eingerichtet zu haben. Erst dann habe ich Kraft für alles andere, denn dann weiß ich: Hierhin komme ich zurück. Hier habe ich meinen Platz.

Und mein Zimmer, mein Zimmer ist Basis und Krönung von alledem. Ich habe dieses Zimmer seit der ersten Klasse. Ich brauche es. Ich muss doch wissen, dass es noch da ist und ich wieder dahin kommen kann. Es ist der eine Ort, der bleibt.

Meine Familie beginnt derweil um das Zimmer zu feilschen. Mein Bruder will vielleicht doch lieber aus seinem Wandverschlag raus und endlich mal ein Zimmer haben, in das auch sein Kleiderschrank passt. Mein Vater will weg von dem Zimmer mit dem Straßenlärm und der langen Wand zum Flur. Meine Schwester überlegt, ob mein Zimmer vielleicht doch größer ist als ihres, will aber doch in ihrem bleiben. Das Klavier soll zurück ins Wohnzimmer wie früher. Das kann keiner gebrauchen.

Ich atme durch. Eigentlich, so ganz rational gesehen, dürfte mir das egal sein. Ich bin nicht einmal im Land – was sollte es mich da stören, dass mein Zimmer anders verwendet wird? Ich bin doch eh nicht da, werde nicht einmal zu Besuch kommen können. Frühstens in einem Jahr könnte ich es wieder brauchen, und selbst dann nur für ein paar Wochen oder Monate. Wie blödsinnig wäre das denn, mein Zimmer so lange einfach brach liegen zu lassen?

Trotzdem. Etwas in mir schmerzt und bricht bei dem Gedanken an den Verlust meines Zimmers. Ich will das nicht. Es soll bleiben.

Und wie das manchmal so ist, macht es auf einmal wie so ein kleines ‚Klick‘. Es ist, als würde man über eine Grenze kommen und auf neuem Boden stehen.

Es ruft mich raus in neue Zeiten, neue Welten, und da brauche ich dieses Versteck nicht mehr. Ich kann es loslassen, denn es wird alles neu. Mein Zimmer war und ist derzeit noch meine äußere und innere Heimat, doch ich bin auf dem Weg zu neuen Heimaten, neuen Welten, neuen Abenteuern. Irgendwo macht es auch Spaß, all das Alte freimütig aufzugeben. Es lässt mich frei fühlen, mein Zimmer loszulassen. Etwas reizvolles liegt darin. Wenn es diese Basis nicht mehr gibt, brauche ich auch nicht zu ihr zurück kommen. Dann kann ich auch gleich weit, weit weg gehen und alles anders machen.

„Naja, das schauen wir dann, wenn es soweit ist“, schließt meine Mutter die Debatte um das Zimmer, indem ich derzeit noch bin. Und es ist okay. Ihr dürft es haben. Ich gebe es frei.

Ich werde

Lebenslektionen lernt man im Gehen, im in-Bewegung-bleiben, im Sein und Denken und Fühlen und Werden. Und ich werde – werde jemand, die ich vorher noch nicht war. Werde an den Orten entlang des Weges, an den Menschen, die da sind.

Mein Kopf könnte platzen vor lauter Gedanken und Input, doch er tut es nicht, weil meine Schädeldecke zu dick ist. Irgendwie liebe ich das schon, wenn ich mich einfach auf den Boden legen und meinem Kopf beim Arbeiten zuhören kann.

Ganz schnell klopft mein Herz, vor lauter Aufregung und Lebendigkeit, denn da sind so viele Menschen in meiner Welt, die so viel wert sind und die tausend Gedanken und Gefühle in mir auslösen können. Manchmal zieht sich meine Seele aber auch schmerzhaft zusammen, denn unklare Beziehungen, Spannungen mag sie gar nicht, und mit Menschen kommt so etwas manchmal vor.

Und da sind meine Hände, so ungeduldig, etwas zu tun, alles zu tun, die Gedanken arbeiten zu lassen und in der Zeit einen Baum zu fällen oder ein Zimmer mit Farbe voll zu klatschen oder ein Iglu zu bauen, aber dafür ist ja gerade kein Schnee da.

Hier bin ich, und schau, das bin ich, und ich nehme mich wahr.

Und in meinem Herz, da werden kleine Momente manchmal ganz, ganz groß, und weite, ferne Träume greifbar. Und da bin ich jetzt. Mein Kopf denkt, mein Herz klopft, meine Hände wollen loslegen und ich werde, werde am Leben, werde an allem, allem um mich rum.

Und wo mir alles zu viel ist – und das kommt vor, wenn man nur ein einziger Mensch ist, so wie ich – dann tapse ich mal wieder nachts in das Zimmer meines großen Bruders und schaue ihm beim PC-Spielen zu. Und dann betet er für mich, und ich weiß wieder: Alles wird gut.

Jemand sagte mir, ich bin es wert, dass man auf mich wartet, und auch, wenn er das anders meinte, warte ich jetzt auf mich. Ich werde, und ich werde sein.