Gestatten, Teilzeit-Einsiedler.

Vielleicht ist dieser Text schon zwei Jahre alt. Vielleicht ist er aber auch einfach zeitlos. Und vielleicht sollte man ihn nicht auf die Ehe anwenden.

Wie schön wäre das, einfach mal so richtig ersetzbar zu sein. Niemand, der nach mir fragt. Niemand, dem ich fehle, wenn ich gerade gar keinen Bock auf Menschen habe. Niemand, der irgendetwas von mir will, zum Beispiel einen besonderen Platz in meinem Herzen.

Bin ich gut darin, Menschen eine Freundin zu sein? Manchmal glaube ich das, denn es gibt ganz schön viele Menschen, für die ich eine ganz besondere Freundin bin. Eine besonders wichtige Freundin. Dabei wäre ich oft viel lieber einfach nur irgendeine Freundin. Irgendeine Freundin, die man hat, obwohl man schon genug Freunde hat, einfach nur deshalb, weil man sie mag – die wäre ich gerne.

Das klingt jetzt erst einmal komisch. Ich meine – ist nicht jeder gerne anderen Menschen wichtig? Hat nicht jeder gerne gute Freunde? Freut sich nicht jeder, wenn er merkt, dass er vermisst wird, wenn er nicht da ist?

Möglich, dass das so ist. Bei mir oft auch. Aber ich finde es eben auch erdrückend. Zuneigung kann ganz schön erdrückend sein, wenn man sie gerade nicht will. Und Freundschaften werden schnell zum Stressfaktor, wenn man gerade lieber alleine wäre.

Bin ich denn die einzige, die die Frage „Wie geht es dir?“ manchmal ganz schön fordernd findet? Mit dem richtigen Tonfall, dem richtigen Blick – als wäre es das gute Recht des anderen, zu erfahren, was mich bewegt. Ist es aber nicht. Niemand hat das Recht, das zu erfahren. Wenn ich überhaupt über etwas reden will, dann reicht es mir in der Regel, darüber mit ein oder zwei Menschen zu reden. Und zwar egal, wie wichtig ich der dritten oder vierten oder achten Person jetzt noch bin.

Es ist schwierig. Jedes „Du bist eine meiner engsten Freundinnen“ erfordert eine Antwort. Aber es ist nicht die Entscheidung des anderen, welche Stellung ich ihm gebe. Das ist meine Entscheidung. Manchmal muss ich Menschen ganz schön vor den Kopf stoßen. Ich mach das nicht gerne. Ich hasse das. Und besonders weh tut es, wenn ich weiß, dass der andere das Gefühl hat, mich zu brauchen.

Aber niemand braucht mich. Das ist die Wahrheit. Es geht auch ohne mich. Geh ich weg, findest du jemand anderen. So, wie man eine neue Fachkraft einstellt. So wie man einen neuen Partner findet, wenn eine Beziehung beendet ist.

Mich entspannt das, zu wissen, dass ich ersetzbar bin. Ich wünschte mir nur, das würden mehr Menschen so sehen.

Es liegt eine Freiheit darin, ein bisschen überflüssig zu sein. Und diese Freiheit fehlt mir gerade. Ich fange an, hart zu werden, um mir diese Freiheit zurückzuholen. Ich bin nicht so Menschen-orientiert, wie ich immer aussehe. Ich bin nicht so eine tolle Freundin, wie alle immer sagen. Ich bin auch nicht so offen, wie es anderen häufig scheint.

Nein, vielleicht bin ich eher Teilzeit-Einsiedler. Rühre am Liebsten ganz alleine in meiner Gedankensuppe, gehe nur an Sonntagen mehr unter Menschen, als ich mir selbst als „so viel tut dir eigentlich gut, also mach das auch“ verschrieben habe.

Das schwankt. Das schwankt, und das finden viele sehr schwer zu verstehen. Warum ich manchmal drei Wochen niemanden sehen möchte und danach nicht genug bekomme. Aber ist das so kompliziert? Du hast das Recht, kein Bock auf mich zu haben, jederzeit. Und ich hätte dieses Recht gerne auch.

Teilzeit-Einsiedler, und jetzt im Moment Vollzeit. Wer mir jetzt zu vertrauensselig ist, zu nahe tritt, zu viel von meinem Herz oder meinem Leben abhaben will, dem haue ich eins mit der Schippe über. Freundin sein? Gerade ausverkauft. Kommt auch nicht so schnell wieder rein. Schauen Sie lieber mal bei den anderen Menschen die Straße hinunter, da haben Sie bessere Chancen. Auf Wiedersehen, und übrigens haben Sie Hausverbot!

Freihändig

Auf dem Weg vom Arzt im Vorort zum Sportladen in der Stadt kaufe ich mir beim Bäcker eine Käse- und eine Laugenstange. Ich suche mir eine Bank und frühstücke in der Vormittagssonne. Es ist eine schöne Bank – hinter mir eine Weide, vor mir ein Feld und dahinter die Stadt. Hinter der Stadt die zwei Burgen und der Fernsehturm. „Guck mal, die Burgen“, ist ein Satz, den wohl jeder schon gehört hat, der hier mit mir spazieren war. Der Anblick dieser Burgen ist Heimat für mich geworden.

Ich habe Zeit. Endlich, endlich ist da nichts mehr, das ständig an meinen Gedanken und an meinen Gefühlen nagt. Nirgends eine Dringlichkeit, eine Not, ein Konflikt. Stattdessen Frieden. Ich bin frei. Innen drin und außen rum. Meine Seele kann auf Wanderschaft gehen. Sie geht auf Wanderschaft und fängt an zu spielen. Wenn ich frei bin, dann spiele ich. Mit dem Wind und den Bäumen und mit mir. Ich blödel rum und lache über mich selbst. Hoffentlich beobachtet mich keiner, denke ich. Und lache, weil mir das irgendwie auch egal wäre.

Ich fahre freihändig Fahrrad und strecke die Arme so hoch in den Himmel, wie ich kann. Zu Hause tanze ich zu Green Day durch die Küche und backe einen Kuchen, einfach so und nur für mich. Ich mache extra viel Schokolade rein und lecke die Schüssel aus.

Und zwischendurch: Erinnerungen. An diesen Sommer. Hochzeiten feiern mit alten Freunden. Neue Leidenschaft fürs wohlbekannte Sommerlager. Wie wunderbar es ist, versöhnt zu sein. Welcher Friede darin liegt, alles Gott zu geben und sich immer nur den nächsten kleinen Schritt von ihm leiten zu lassen. Wie gut, dass es nicht an mir hängt, alle Probleme zu lösen und Schwierigkeiten zu überwinden. Wie gut, dass mein Versagen kein Problem ist. Wie gut, dass Gott und Menschen mir vergeben. Wie gut, dass Gott alles in seine Hand nimmt.

Gott hat alles im Griff.
Und ich? Ich bin froh, dass ich nicht so viel nachdenken muss. Ich komme ja sowieso ganz schnell an meine Grenzen. Habe ja sowieso nicht richtig den Überblick. Gott kümmert sich. Ich darf spielen. Darf spielen mit dem Wind und den Bäumen, die er gemacht hat.

Ich muss los. Gleich piept der Wecker und dann hole ich einen Kuchen mit Extra-Schokolade aus dem Ofen.

Ein Luftballon aus Licht

Frost liegt über der Stadt. Er durchdringt den Boden, lässt die Luft klirren und die Autos glitzern. Viele Fenster sind warm erleuchtet. Ich pflücke mir eins und laufe mit einem Luftballon aus Licht durch die Straßen. Bäume stehen dort wie stille Tänzer in Startposition, scheinen zu warten auf Musik und Wind und Frühling. Ein paar Jugendliche mit lauten Stimmen verschwinden in einer trüben Einfahrt zwischen steif herab geneigten Häusern. Ein Bus rauscht vorbei und es wird wieder still. Auf dem Asphalt schimmern kleine Eiskristalle weiß im Laternenlicht.

Ich fühle mich, als würde ich durch ein Gemälde laufen. Oder durch ein Gedicht. Meine Hand wird kalt und ich nehme die Schnur meines Luftballons aus Licht in die andere Hand.

Es ist still. Diese Stille ist so schön, weil niemand sie füllen muss. Alles, was ist, ist schon genug: Die Fenster, die Bäume, die Straßen, der Frost. Dazwischen laufe ich. Ich muss lächeln, weil ich mich an die Reaktionen anderer Menschen auf solche Gedankenbilder erinnere, wenn ich es doch mal gewagt und sie ausgesprochen habe. „Typisch Sina: Bäume sind auf einmal Tänzer, erleuchtete Fenster kann man pflücken und die Welt ist ein Kunstwerk.“ Aber so ist es nunmal auch! Es ist eben eine stille Freude. Ich erdenke Farben und Stimmung und Worte und umspinne damit die Stadt und die Straßen. Mein Publikum ist mein Herz. Alles hier ist sich selbst genug, und in diesem Moment bin ich mir das auch.

Zuhause, ich komme zu Hause an. Ich lasse meinen Luftballon in den Nachthimmel steigen und sehe ihm nach, bis ich ihn von den Sternen nicht mehr unterscheiden kann.

Murmeltiertage

Hallo, ich bin heute ein Murmeltier.

Ich bin mir gar nicht so sicher, warum es eigentlich das Murmeltier geworden ist. Eigentlich macht das gar nicht so viel Sinn. Murmeltiere, die sind gesellig, leben in Rudeln. Sie sind nicht scheu.

Aber wenn ich ein Murmeltier bin, dann kann ich keine Menschen mehr um mich leiden. Dann bin ich scheu. Dann will ich mich verkriechen wie ein Murmeltier in seinem Bau. Dann will ich erst mal eine ganze Weile nicht mehr herauskommen wie ein Murmeltier beim Winterschlaf. Dann will ich es mir kuschelig und gemütlich machen und es ganz alleine genießen. Murmeltiertage.

An Murmeltiertagen bin ich müde und klein. Die starke Sina, die gibt es momentan sehr oft. Diese Sina studiert, knüpft Freundschaften, findet sich zurecht in einer neuen Stadt, sie mischt mit und baut sich ihr neues Leben auf. Und manchmal? Manchmal merke ich, dass ich diese Sina gar nicht bin. Noch nicht wieder sein kann. Dass ich erschöpft und ausgelaugt bin. Dass ich langsam machen muss. Denn ich, Sina, komme nur weit, wenn ich langsam mache. Und wenn ich das merke, wenn diese Gefühle und Gedanken wie eine Welle kommen, dann weiß ich: Murmeltierzeit. Ganz dringend. Ich muss wieder ein Murmeltier sein.

Die Wahrheit ist, dass ich eigentlich gar nicht so gern allein bin an meinen Murmeltiertagen. Es gibt Menschen, die dürfen sein. Die wünsch ich mir. Sichere Menschen. Wo ich geschützt bin. Starke Menschen. Die nicht mitschwingen mit aller Stimmung, Atmosphäre, allen Worten und Themen und Gesichtern wie ich. Die das nicht beeindruckt. Die dieselben bleiben und mich genauso lieben. So Menschen dürfen sein. Solche Menschen suche ich hier in der neuen Stadt. Und einen solchen Menschen suche ich, damit er bleibt.

Und jetzt, jetzt gehe ich. Tschüss!
Weil ich heute ein Murmeltier bin, darum nämlich.

Unter Flügeln

(Begonnen am 21. November 2015, heute wiedergefunden und vollendet)

Riesige Vögel fliegen vor der Sonne, Scharen von ihnen, und lassen kaum noch Licht hindurch. Es wird dunkel.

Im Dunklen sitze ich. Ich sitze allein. Ich sitze und alles zieht an mir vorbei wie Vögel, wie Vögel, die auf mich zurasen und von mir wegrasen und deren Flügelschlag mich berührt. Noch immer sitze ich. Tage werden zu Wochen und Wochen zu Monaten. Dunkel. Allein.

Dunkel und allein klingt schlimm. Ist es aber gar nicht. Ich habe es immer geliebt, nachts draußen zu sein, besonders mit nur wenigen Leuten oder alleine. Nicht gesehen werden birgt eine ganz besondere Geborgenheit, und allein sein eine ganz besondere Freiheit.

Dunkel und allein ist nicht schlimm, aber es konfrontiert einen mit sich selbst. Im Dunklen, wo man nicht viel sieht, ist man auf einmal mehr bei sich. Alleine, wo kein anderer einen definieren kann, man nicht Teil der Welt eines anderen ist, da sieht man seine eigene Welt. Das ist manchmal schwer.

Vögel fliegen vor der Sonne, große, in Scharen, und sie sind gekommen und werden wieder gehen. Ich sitze da, sitze allein im Dunklen. Mich selbst werde ich immer bei mir haben. Meinen Blick nach innen gerichtet entdecke ich, was ich nie kannte. Im Schatten entdecke ich Schönheit.

Vielleicht ist es auch gar nicht der böse Schatten etwas Bedrohlichen, in dem ich gerade bin, sondern der behutsame Schatten schützender, weicher Schwingen eines so viel größeren Gottes. Und vielleicht ist die geheimnisvolle Schönheit, die meine Augen da erkennen lernen, seine.