Tränenspuren werden schneller kalt

Tränenspuren werden im Winter schneller kalt als der Rest des Gesichts.

Raureif. Als ich heute zum ersten Mal Raureif gesehen habe, musste ich lachen. Ich musste lachen, weil Raureif etwas so Schönes und Wunderbares ist und ich mich freue, dass es ihn gibt. Ich liebe den Winter und ich liebe die Kälte. Ich liebe es, mich dick einzupacken, bevor ich rausgehe, und mich dann mollig warm zu fühlen, während kalte Luft die Wangen streift.

Kalte Luft streift Tränenspuren. Eiskalte Linien. Schnell trockne ich sie ab.

Ich weiß einfach nicht, was ich dir antworten soll, wenn du mich fragst, wie es mir geht.

Murmeltiertage

Hallo, ich bin heute ein Murmeltier.

Ich bin mir gar nicht so sicher, warum es eigentlich das Murmeltier geworden ist. Eigentlich macht das gar nicht so viel Sinn. Murmeltiere, die sind gesellig, leben in Rudeln. Sie sind nicht scheu.

Aber wenn ich ein Murmeltier bin, dann kann ich keine Menschen mehr um mich leiden. Dann bin ich scheu. Dann will ich mich verkriechen wie ein Murmeltier in seinem Bau. Dann will ich erst mal eine ganze Weile nicht mehr herauskommen wie ein Murmeltier beim Winterschlaf. Dann will ich es mir kuschelig und gemütlich machen und es ganz alleine genießen. Murmeltiertage.

An Murmeltiertagen bin ich müde und klein. Die starke Sina, die gibt es momentan sehr oft. Diese Sina studiert, knüpft Freundschaften, findet sich zurecht in einer neuen Stadt, sie mischt mit und baut sich ihr neues Leben auf. Und manchmal? Manchmal merke ich, dass ich diese Sina gar nicht bin. Noch nicht wieder sein kann. Dass ich erschöpft und ausgelaugt bin. Dass ich langsam machen muss. Denn ich, Sina, komme nur weit, wenn ich langsam mache. Und wenn ich das merke, wenn diese Gefühle und Gedanken wie eine Welle kommen, dann weiß ich: Murmeltierzeit. Ganz dringend. Ich muss wieder ein Murmeltier sein.

Die Wahrheit ist, dass ich eigentlich gar nicht so gern allein bin an meinen Murmeltiertagen. Es gibt Menschen, die dürfen sein. Die wünsch ich mir. Sichere Menschen. Wo ich geschützt bin. Starke Menschen. Die nicht mitschwingen mit aller Stimmung, Atmosphäre, allen Worten und Themen und Gesichtern wie ich. Die das nicht beeindruckt. Die dieselben bleiben und mich genauso lieben. So Menschen dürfen sein. Solche Menschen suche ich hier in der neuen Stadt. Und einen solchen Menschen suche ich, damit er bleibt.

Und jetzt, jetzt gehe ich. Tschüss!
Weil ich heute ein Murmeltier bin, darum nämlich.

Herbstlaub

Auf den schmalen, von Wurzeln aufgebrochenen Asphaltwegen des Unigeländes bockt mein gliebtes, geerbtes grünes Fahrrad wie ein unwilliges Pferd, so, als würde es überhaupt nicht wollen, dass ich jetzt zur Uni fahre. Aber ich, ich will. Und bei solchen Dingen habe ich das Sagen. Ich schließe das Fahrrad ab, gehe durch die Drehtür und die zwei Treppen hoch. Zweites Obergeschoss, hinter den Slavisitik-Büchern, in dem kleinen Lesesaal mit den zwei Fensterfronten und den vielen kaputten Steckdosen, da ist mein Platz.

Ich liebe es, hier zu sein, wenn es noch kein anderer ist. Ich liebe die Gegenwart der Bücher, den Blick auf die Herbst-gelben Bäume vor den Fenstern und ich liebe die Ruhe, die selbst dann noch bleibt, wenn der Raum sich langsam füllt.

Es ist manchmal nicht leicht, hier zu sein. Damit meine ich nicht die Unibibliothek. Damit meine ich die Stadt. Die Gegenwart von ständig wechselnden, ständig fremden Menschen. Das ununterbrochene Orientieren in all dem, was neu ist, und das ist beinahe alles. Das ist nicht leicht für mich. Dann weine ich und telefoniere mehr mit meiner Mama, als ich meinem Stolz verraten will.

Gestern war ich im Wald. Das war schön, und die Ronja Räubertochter in mir, der die Bäume und die Tiere und der Wind Freunde sind, konnte ein bisschen Heimat finden. Im Wald sein, das ist gleich, ob man nun ein paar hundert Kilometer weiter hier oder dort ist. Deswegen mag ich das. Deswegen brauche ich das. Solange Blätter im Herbst gelb und rot werden und von den Bäumen fallen und solange sie im Frühjahr wieder neu wachsen, solange geht die Zeit weiter. Solange das vor meinen Augen geschieht, solange werde ich auch weitergehen, immer noch einen Schritt, immer weiter auf diesem Weg, der meiner ist. Das nächste Mal, wenn neue, zarte Blätter aus kleinen Knospen schlüpfen, wird ein Teil meines Schmerzes weg sein, weggefegt wie das trockene, tote Laub vom Herbstwind. Das hoffe ich. Daran klammere ich mich.

Langsam füllt sich der Raum und langsam füllen sich auch meine Gedanken. Die Dinge, die heute auf mich zukommen. Die Menschen, denen ich begegnen werde. Die Stituationen, denen ich lieber aus dem Weg gehen würde, wenn ich könnte. Es ist ein neuer Tag in diesem Neu von Leben, von Welt. Das kommt jetzt einfach auf mich zu. Bei solchen Dingen habe ich nicht das Sagen. Solche Dinge geschehen einfach. Ich versuche, Schritt zu halten. „Weiter“ ist das Wort – immer, immer weiter.

Universitätsbibliothek, der kleine Lesesaal hinter der Slavistik, herbstlaubsatte Bäume vor dem Fenster – eine neue Studentin schreibt.

Die Tasche packen und weiterziehen

Über den dritten Anfang, nachdem zwei Anfänge in Einsamkeit und Verletzung gemündet sind

Es hat sich gut angefühlt, mein ganzes Leben in einen großen, roten Wanderrucksack von 15 kg zu packen und in ein fernes Land zu ziehen. Noch besser hat es sich angefühlt, mein ganzes Leben in einen großen, roten Wanderrucksack von diesmal 17 kg und einen kleinen, grünen, sehr ökonomisch gepackten Trolly  von 12 kg zu packen und wieder nach Deutschland zurück zu kommen. Das erste Packen ist nun etwas mehr als ein Jahr her. Das zweite ein paar Monate.

Ich möchte das wieder machen.

Ich möchte wieder eine nicht allzu große Tasche nehmen und überlegen, was ich wirklich brauche. Ich möchte wieder alles zurück lassen, was mich nicht wirklich davon überzeugen kann, dass ich es brauche. Ich möchte wieder alle meine Dinge reduzieren auf ein bisschen, auf eine oder zwei Taschenfüllungen.

Denn ich fühle mich schwer.

Ich fühle mich beladen mit ganz vielen Dingen, die ich nicht mehr haben möchte. Mit Beziehungen, die zu pflegen mich nur anstrengt. Mit Vertrautheit, der mehr beengt als Geborgenheit gibt. Mit Blicken auf mir, gefärbt von Vergangenheit – Vergangenheit, in der ich anders war als jetzt. In der ich gerne anders gewesen wäre, als ich es wirklich war.

Ich will weg.

Vielleicht ist das ein Fluchtinstinkt. Ja, natürlich ist das ein Fluchtinstinkt. Ich fliehe vor Menschen, Themen, Orten, die mir schwer fallen. Ich fliehe vor schwierigen Gesprächen und noch schwierigeren Entscheidungen, fliehe vor der Vergangenheit. All das ist schwer. Ich will leicht sein und mich leicht fühlen. Ich fühle mich nicht leicht. Ich fühle mich angespannt, und wenn ich an mir herunter sehe, entdecke ich meine Hand viel zu oft als Faust, unbewusst geballt angesichts meines Lebens.

Was ich nicht wieder möchte, ist neu anfangen. Am liebsten wäre mir eine Lücke, eine Pause, eine Zeit, in der ich nichts muss – eine Auszeit. Ich habe Angst vor dem Neuanfang. Ich habe Angst, meinen Platz nicht zu finden, keine guten Freunde zu finden, mich unwohl zu fühlen. Ich habe Angst vor dem Haken, den ich nach all den Schlägen und Enttäuschungen der letzten Monate automatisch erwarte. Der Haken, der alles zerstören wird. Er muss da sein. Es gibt ihn immer.

Es gibt ihn nie.

Ich weiß das, weil ich gesehen habe, wie aus Asche und Schmerz Gold wird. Weil ich eigentlich ja schon weiß, wie das geht. Doch das nimmt einem nicht die Angst, und der Bruch, der durch mein Vertrauen geschlagen ist, als ich allein gelassen wurde, er geht tiefer als nur diese Beziehung, er nimmt mir noch viel mehr, hat mir einen lauernden Blick eingeimpft, ein Misstrauen, ein das-Schlimmste-Erwarten. Ich bin nicht mehr so frei und unbedarft wie früher.

Wenn ich diesmal meine eine oder meine zwei Taschen voll packe, und in ein paar Wochen wird es soweit sein, dann will ich das nicht mitnehmen. Diese Schwere, das Misstrauen, die Verletzung. All mein gebeutelt-sein, das möchte ich nicht einpacken. Heilung, die packe ich ein.

Ich weiß, dass das nicht geht. Dass es Dinge gibt, die mitkommen, weil sie zu mir gehören, ob ich das will oder nicht. Ich weiß das.

Vielleicht will ich auch gar nicht meine Tasche packen und los ziehen. Vielleicht will ich viel lieber die Decke über den Kopf ziehen und so tun, als gäbe es mich nicht und als hätte es mich nie gegeben. Dann wär ich ganz leise, versteckt in mir, und keiner kann mich finden. Ein Igel in Tarnfarben. Die Welt ist mir zu viel, und meine Welt noch viel mehr. Es gibt mich nicht mehr, denn ich kann nicht mehr. Ich hab keinen Mut, ich verstecke mich, es lohnt sich nicht.

Doch, es lohnt sich.

Ich packe meine Tasche in das Auto und ziehe um.

Billige Versöhnung

Aus dem Archiv.

Gerade habe ich einen Film gesehen. So einen Romeo-und-Julia-Film. Nicht in der Hinsicht, dass die Liebe vergöttert wird, sondern in dem Sinne, dass sich zwei verfeindete Familien über den Tod des einen Kindes versöhnen.

Billige Versöhnung. Immer ist es so. Einen Film lang wird die Verfeindung, die Verbitterung, die Unvergebenheit, das Unverständnis aufgezeigt, wie tief es geht, wie weit es reicht. Und dann gibt es einen emotionalen Moment fünf Minuten vor Schluss, indem sich alle versöhnen. Zeitsprung: Die glückliche Zukunft.

Ich glaube an Versöhnung. Ich habe Versöhnung selbst erlebt. Ich habe Verbitterung und Unvergebenheit erlebt und mit mir herum getragen und ich bin durch all diese Phasen gegangen, die es braucht bis zur echten Versöhnung. Es ist ein weiter Weg. Er ist anstrengend. Er ist nicht nur schön.

In der Bitterkeit liegt eine Härte, die eine kurzfristige Kraft birgt. Aus dieser kurzfristigen Kraft heraus beginnt man zu handeln, es entstehen Muster. Die Härte wird Teil eines Systems. Die meisten Menschen lernen, darin zu leben. Auch wenn sie innerlich zerbrechen: Die Härte bleibt aufrecht, das System läuft weiter. Wenn so eine Maschiene erst einmal in Gang gesetzt worden ist, ist sie schwer zu stoppen.

Versöhnung zerstört das. Auf einmal steht man still. Aber die Zeit geht weiter, und irgendwie muss man weitermachen. Man muss alles neu lernen, denn es gibt einfach kein System mehr, das funktionieren könnte.

Außerdem muss noch so viel aufgeräumt werden. Auch wenn man sich ganz grundsätzlich vergeben und versöhnt hat, so gibt es doch noch Verletzungen, die nicht angeguckt wurden, noch nicht geheilt sind, wo immer noch Bitterkeit ist. Manchmal stehen Menschen voreinander, ehrlich an Versöhnung interessiert, aber die Fremdwahrnehmung passt nicht zur Eigenwahrnehmung, man sagt etwas mit der Intention des Friedens und es wird als Angriff aufgefasst, man fällt zurück in die alten Antworten. Durch all das muss hindurch gegangen werden. Versöhnung ist ein langer, anstrengender Weg.

Er ist es wert. Hier stehe ich und bin so viel reicher durch all das, was ich gewonnen habe, weil ich durch diese Momente gegangen bin.

Doch anders ist es. Anders als die billige Versöhnung eines emotionalen Momentes. Diese reicht nicht weit. Es ist eine ganze, tragfähige, sendende Versöhnung. Das ist die Versöhnung, die ich wählen will – immer wieder.

Jemand, der mir beim Klavier spielen zuhört

„Darf ich zuhören?“

„Ja“, flüstere ich zurück.

Die Welt zerbricht. Manchmal tut sie das. Dann steht man da und versteht nicht, wie das, was vorher heile war, jetzt kaputt ist. Mit einem Mal zerschlagen. Der Schock kommt, der Schock geht, Tränen und Gedanken und Erinnerungen, ich kann kaum atmen – irgendwie weiter. Und jetzt?, fragt es in mir, fragt es beständig in mir, nach jedem neuen Bruch. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe für all das. Ich sehe nicht, wie ich den Weg schaffen soll, der da vor mir liegt. Gebeutelt, wie ich bin. Verletzt. Zerbrochen.

Sommerlagerluft ist abends kühl, und die Metallringe des Eingangs des großen Veranstaltungszeltes klirren, als die Zeltplane ein wenig zur Seite geschoben wird. Ich habe Klavier gespielt, alleine, wie schon so manches Mal am Abend, wenn beinahe alle anderen beschäftigt sind. Ich habe versucht, Musik zu machen, die macht, dass mein Inneres durch den Schmerz und das Chaos hindurch zu Gott kommen kann. Allein und versunken in dem großen Zelt am Klavier. Jetzt stocke ich, sehe mich um, erkenne, wer da hinein gekommen ist, versuche, mich nicht ganz durcheinander bringen zu lassen. „Darf ich zuhören?“ – beinahe schon zaghaft gefragt.

„Ja.“

Jemanden zu haben, der zuhört, wie man Klavier spielt, wenn die Seele zerbrochen ist – jemanden, der einen Schritt weiter gehen kann als reden und beratschlagen und ablenken, nämlich ganz ruhig da sein und schweigen – so jemanden zu haben, und wenn auch nur für zwanzig Minuten, wenn auch nur ausgeliehen für diesen Moment – das macht den ganzen Unterschied.

Den Unterschied, den ich brauche, um an Mut für den nächsten Tag zu glauben.

Ein Mädchen der Nacht

Geschrieben als Mädchen, wiedergefunden als Frau

Das Mädchen, das in jener Nacht im Gras lag und in den Anblick der Sterne versunken war, hatte überhaupt keine Angst vor der Dunkelheit. Nein, vielmehr verstand es sie als Freund, als Schutz, denn nun war es ungesehen. Es hatte ein gutes Gehör, sodass es wusste, was um es herum geschah, ohne es sehen zu müssen. Das Mädchen lag dort so selbstverständlich, wie ein Baum im Wald steht oder eine Oma Socken strickt. Es war einfach so. Das Mädchen lag dort und betrachtete Sterne.

Etwas in ihm löste sich in dieser Nacht schmerzhaft auf. Ich weiß nicht, was es war. Das Mädchen wurde danach nie wieder gesehen. Seine roten Haare und seinen Namen trug von nun an eine Frau, ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, ihm von dem Charakter und der Persönlichkeit gleichend wie eine Schwester, doch unmöglich es, denn es war ein Mädchen und sie eine Frau.

Es war ein Mädchen der Nacht gewesen und die Dunkelheit sein Freund – ein Märchen der Vergangenheit.