a little special

Das ist mein Kind. Das sagen zwar alle Eltern, aber ich habe es offiziell, schwarz auf überweisungsträgerpink: Entwicklungsgestört. Mit einem „G“ – Gesicherte Diagnose.

Was genau dieses „a little special“ ist und ob das wirklich nur „little“ ist, oder ob da etwas tiefgreifendes dahintersteckt, das ist alles noch offen. Wir befinden uns in der Schwebe zwischen Un- und Sicherheit. Wir wissen ein wenig, aber das meiste nicht. Wir wissen etwas besser, was eigentlich die Frage ist, und immer ein wenig genauer, wem wir sie am besten stellen sollten. Wir tasten uns voran. Aktuell tut sich uns der Weg nicht weiter auf als der nächste eine Schritt. Wohin der Weg überhaupt führt, ist eine Frage, die ich versuche, nicht zu oft zu stellen. Zu müßig.

Aber so ganz dagegen wehren kann ich mich nicht. Immer wieder habe ich wie so kleine Visionen in meinem Kopf. Bilder, wie es aussehen könnte. Meine Fantasie kreiert Szenarien, kleine Blitzlichter. Mal schön, mal schwierig. Letztens habe ich Hausschuhe gesehen, die süß waren. Aber wie alt wird mein Kind sein, wenn es laufen lernt? Vielleicht 18 Monate? Vielleicht drei Jahre? Seit Monaten sieht es aus, als würde es jeden Moment anfangen, durchs Wohnzimmer zu rollen. Und doch passiert nichts. Laufen ist unendlich weit weg.

Es ist eine mulmige Schwebe. Schwierig auszuhalten. Und doch geht es. Immer wieder schaue ich mein Kind an und denke mir: „Du hast kein Problem. Dir gehts gut. Ich habe das Problem.“ Ihm ist es herzlich egal, entwicklungsverzögert zu sein. Mein Kind ist ein glückliches, ausgeglichenes kleines Wesen. Es hat keinen Leidensdruck. Den Leidensdruck habe ich.

Es ist ein Leidensdruck, weil es so schwierig ist, nicht zu wissen, was ich erwarten kann – noch viel weniger als andere Eltern. Es ist schwierig, weil ich oft nicht weiß, welchen Maßstab ich anlegen soll – oder vielmehr, weil zwei Maßstäbe gleichzeitig in mir existieren. Es gibt den maßgeschneiderten Maßstab aus Mutterintuition und dem tiefen Kennen meines Kindes und den mir viel zu bewussten allgemeinen, vielleicht medizinischen Maßstab. Viel zu oft sagt der eine Maßstab: „Für ihn war das gerade etwas Großes, Neues“, und der der andere Maßstab zeigt an: „Trotzdem noch lange nicht genug.“ Es ist schwierig, weil das Erleben des Andersseins oft schwierig ist. Schon seit Monaten kann ich nicht mehr unter anderen jungen Müttern sein, ohne bis in die Knochen zu spüren, das bei uns etwas einfach anders ist. Dieses Fremdsein, Anderssein, es macht mir manchmal Angst.

Das Schwierigste aber ist das Emotionale. Ein Kind, das nicht laufen lernt, das ist das Eine. Aber ein Kind, für das ich als Mutter völlig austauschbar bin – das trifft einen völlig anderen, viel tiefergehenden Nerv, und die Angst davor weckt Gefühle, denen ich mich aktuell nicht stellen kann. Hier verdränge ich und sage mir: Unwahrscheinlich, extrem unwahrscheinlich. Und halte mich an allem fest, das darauf hinweist, das mein Kind zu mir eine andere Bindung empfindet als zu jemand Fremdem. Wahrscheinlich hat es eine besondere Bindung zu mir. Aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Und diese kleine Restunsicherheit – die ist das Schwierigste von allem.

Aber was sollen wir tun? Wir können uns nicht konsumieren lassen von diesen Sorgen und Gedanken, mein Mann und ich. Also tun wir, was gerade geht: Uns darauf fokussieren, dass es unserem Kind gut geht. Über all das Mulmige reden, ihm den gebührenden Raum geben – und dann das Thema wechseln. Neue Beobachtungen über unser Kind anstellen und sie nicht allzu sehr zu werten. Wir haben verstanden, dass egal, wie der Weg aussieht, eines nicht passieren wird: Niemand wird uns die eine Spritze, die eine Tablette, die eine Therapie anbieten, und zack, hat sich alles aufgelöst und liegt in der Vergangenheit. Niemand wird uns die eine Antwort geben und auf einmal ist alles klar und einfach. Wir befinden uns auf einem Weg, auf dem auf jede Antwort eine Frage folgt. Ein gewisses Maß an Schwebe, an Unsicherheit, an Hoffen und Bangen wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach eine ganze Weile begleiten. Besser, wir freunden uns damit an. Besser, wir arbeiten jetzt daran, einen guten Umgang damit zu finden.

„Vielleicht löst sich die ganze Symptomatik auch in Wohlgefallen auf“, sagte der Kinderarzt am Ende unseres letzten Termines. Ich meine, ihm anzusehen, dass er so etwas schon erlebt hat. Also bleibe auch ich offen dafür. Mir ist bewusst, dass wir nichts wissen über das, was kommt.

Und weil ich keinen ordentlichen Schlusssatz habe, höre ich hier jetzt einfach auf. Das Kind schläft, mein Mann hat Zeit. Wir spielen jetzt Stardew Valley.


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