Eine kleine Runde

„Wollen wir echt noch rausgehen? Ist schon ziemlich spät.“
Wir betrachten gemeinsam den digitalen Wecker, der 23.12 anzeigt.
„Vielleicht noch ne kleine Runde oder so.“

Kurz darauf ziehen wir die Haustür hinter uns zu und laufen los. Industriegebiete und Wälder um Mitternacht – kein Problem, wenn man einen Mann dabei hat. Ich fühle mich sicher. Mit jeden Schritt lasse ich ein bisschen Schreibtisch, Uni, Stress hinter mir. Mit jedem Schritt lockern meine Gedanken etwas mehr auf. Mit jedem Schritt wird diese Gegend ein bisschen mehr mein Zuhause.

Sieben Kilometer und unzählige Worte später. Wir sind auf dem Rückweg. „Was war für dich am schwersten daran, umzuziehen und ein Studium anzufangen?“, fragt er. Ich habe ihn kurz vorher dasselbe gefragt. Jetzt bin ich dran mit antworten. Ich muss überlegen. Die letzten Monate waren viel. Sie waren aufreibend und ein einziges Durchhalten. Sie waren schmerzhaft.

„So viel zu verlieren“, sage ich. Ich erahne sein Nicken in der Dunkelheit. Er kennt meine Geschichte, war die letzten Wochen nah dran.

„Immer, wenn man was verliert, ist da auch ne Chance drin. Was Neues kann kommen.“

Mir wird der Moment bewusst, den ich gerade erlebe. Wir haben beide keine Uhr und kein Handy dabei, aber es ist sicher irgendwann nach eins. Wir laufen durch die Wiesen zurück in Richtung Stadt. Eine Autobahnbrücke erhebt sich weit über uns. Die Dunkelheit umgibt uns wie ein schützender Mantel. Es ist kalt, aber der Wind bläst meinen Kopf frei. Ich muss lächeln.

„Ja. Inzwischen sehe ich das auch. Ich bin froh, hier zu sein.“

Am Ende sind es 10 Kilometer, bis wir wieder bei ihm vor der Haustür stehen. Er ist völlig platt. Meine Füße tun weh. „So viel zu nur eine kleine Runde“, kommentiert er grinsend.

„Danke“, sage ich.

Auf Wiedersehen, Sommerlager.

Ich stehe hier, auf der Wiese, die jetzt zweieinhalb Wochen lang mein Zuhause war.
Ja, es ist inzwischen nur noch eine Wiese. Vorgestern Morgen standen hier noch Zelte, Türme, Überdachungen und so weiter, ein ganzes Lager eben. Man kann am Boden noch sehr gut sehen, wo was war. Dort, wo wir ständig lang gegangen sind, ist die Wiese braun. In unmittelbarer Nähe von Abspannungen und Bauten ist das Gras noch saftig grün. Und unter Zelten mit Boden (wie beispielsweise den Waschzelten, dem Küchenzelt oder dem Sanitäter-Zelt) ist das Gras gelb und platt geworden. Auf dieser Wiese, auf diesem Sommerlager, habe ich zweieinhalb Wochen lang gelebt. Eine Woche als Teilnehmerin bei den Älteren, den Rest als Mitarbeiter bei den Jüngeren.

Ich habe hier so eine intensive Zeit gehabt, so viel erlebt.

Ich hatte Heulattacken und Lachkrämpfe, Konflikte und Versöhnungen, Zweifel und Erfolge. Hier habe ich darum gebangt, Mitarbeiter werden zu dürfen. Ich habe ich eine Tüte Chips ausgeben müssen, als ich dann gefragt wurde. Hier hatte ich intensive Gespräche. Hier bin ich hart an meine Grenzen gekommen. Hier bin ich über meine Grenzen hinaus gegangen und dadurch gewachsen. Hier habe ich wunderschöne Sonnenauf- und -untergänge beobachtet. Hier habe ich Kindern meinen Glauben gezeigt und ihnen von Gott erzählt. Hier war ich für Gott. Hier habe ich erlebt, wie völlig abhängig ich von ihm bin. Hier habe ich Vorzelte und Türme gebaut. Hier habe ich mit Kids gekuschelt und gesungen, Marshmallows gemacht und Stockbrot gegessen, gewandert und draußen geschlafen, gemalt und motiviert, gekümmert und durchgeatmet. Ich habe eine Lagerstory gelebt und getragen. Hier habe ich in einem Waschzelt geduscht und bin auf Dixiklos gegangen. Hier gab es ein Dixi, das nach mir benannt wurde. Hier habe ich die Leitung meiner tollen Gruppeneltern und meines Coaches genossen. Hier habe ich viele, viele Menschen in mein Herz geschlossen. Hier, auf dieser Wiese.

Zweieinhalb Wochen war dieser Lagerplatz jetzt mein Zuhause. Ich war nur für die 2-Tageswanderungen weg. Und ich fühle mich hier wohl, geborgen, gut aufgehoben, zuhause. Wie eine Ewigkeit kommt mir die Zeit hier schon vor. Was am Anfang der Zeit war ist schon so weit weg.

Und ich stehe hier, stehe jetzt hier, und werde gleich abgeholt nach Hause. Ich freue mich auf Zuhause, und gleichzeitig fällt es schwer, zu gehen. Es ist so eine Art Zerrissenheit und Ziehen in mir drin. Ein ganz neues, ungewohntes Gefühl. Mir fällt auf, dass ich noch nie zweieinhalb Wochen am Stück an einem anderen Ort war als Zuhause. Und vor allem nicht an einem Ort, den ich so sehr liebe. Ich will bleiben an diesem Platz und ich will nach Hause. Bleiben wäre Quatsch, denn wir haben ja heute und gestern alles abgebaut. Trotzdem will ich nicht gehen.

Und obwohl da dieses Ziehen ist, habe ich in mir ein glückliches Gefühl. Es war gut, wie es war. Es war gut, dass ich hier war. Es ist gut, dass ich jetzt nach Hause fahre. Es ist gut, wie es ist. Gott ist gut.
Und ich schaue noch einmal über den Platz.
Wie vertraut er mir ist.

Und dann gehe ich.