Vor über zwei Jahren, kurz nach seiner Geburt, hatten wir die ersten Vermutungen, dass unser Sohn anders ist als die meisten Kinder. Dass er – im wahrsten, statistischen und wertfreien Sinne* – nicht normal ist. Vor etwa eineinhalb Jahren haben wir das zum ersten Mal schriftlich bekommen. So gesehen bin ich immer noch frisch, sowohl im Mama-Business, als auch im special-needs-business. Und gleichzeitig hab ich schon so viel gelernt, dass ich damit Bücher füllen könnte. Hier die Tipps, die ich mir mit der Zeitreisenbrieftaube eineinhalb Jahre zurück schicken würde. Wenn du sie gebrauchen kannst, take them. Falls nicht – noch besser.
1. Die Trauer ist normal, gehört dazu und wird weniger werden.
Die Trauer hat mich am Anfang sehr verwirrt. Für mich war ein behindertes Kind nie eine schlimme Vorstellung. Ich hatte davor keine Angst und ich hab mir auch nie aktiv ein gesundes Kind gewünscht. Meine Haltung war: Gewickelt wird, was auf den Tisch kommt. Warum also war ich jetzt traurig, als sich mein Kind als anders herausstellte? Andere Eltern von behinderten Kindern haben gesagt, sie betrauern ihre veraltete Vorstellung von der Zukunft, die so nicht mehr eintreffen wird. Diese Erklärung hat sich für meine Trauer nie passend angefühlt.
So ganz habe ich diese Frage bis heute nicht geknackt. Was ich aber herausgefunden habe: Es macht mich traurig, mitanzusehen, wie hart mein Kind für fast alle Entwicklungsfortschritte arbeiten muss, während es den Kindern in der Umgebung einfach zufällt. Es macht mich traurig, zu spüren, wie isoliert ich in normalen Elterngruppen mit meinen Erfahrungen bin und wie schwierig es für mich ist, mit Eltern normaler Kinder eine gemeinsame Ebene zu finden. Es macht mich traurig, zu spüren, wie es zwischen meinem eigenen Kind und mir verbindungstechnisch nicht in dem Maße fließt, wie ich es überall um mich herum beobachte. Es macht mich traurig, all die Missstände in der Gesellschaft und im System wahrzunehmen, an denen mein Kind und ich uns für den Rest unseres Lebens abkämpfen werden. Und manchmal, da macht es tatsächlich traurig, ein gleichaltriges, fittes Kind beim Spielen zu beobachten und zu realisieren, dass mein Kind ohne seine Einschränkungen jetzt auch auf diesem Entwicklungsstand wäre und was dann alles möglich wäre, für ihn, für mich und zwischen uns.
Aber die Trauer wird weniger, Monat für Monat, und jetzt, eineinhalb Jahre nach der Diagnose, ist sie ein Gast, der manchmal wochenlang nicht vorbeischaut. Sie wird immer weniger schwer, immer händelbarer, auch wenn sie wahrscheinlich für immer in irgendeiner Form bleibt. Stattdessen kommt immer mehr Akzeptanz und Frieden.
2. Hoffnung raubt Kraft und Freude, gib sie auf.
Das klingt jetzt härter als es tatsächlich ist. In der schonungslosen Akzeptanz der Einschränkungen des Kindes, der Besonderheit des Kindes, verbirgt sich Frieden und Freude. Was Kraft raubt, Freude nimmt, Enttäuschungen und unproduktives Abkämpfen vorprogrammiert, ist, die Einschränkungen immer wieder wegzuhoffen. „Vielleicht holt er ja doch noch auf.“ „Vielleicht gibt sich dieses Problem bald wieder.“ „Vielleicht müssen wir uns doch am Ende mit all diesen Dingen gar nicht auseinandersetzen.“ Diese Art zu Hoffen ist zu teuer für uns, diese Kraft haben special needs Eltern nicht zur Verfügung.
Hoffe auf eine gute Entwicklung deines Kindes, auf Akzeptanz des Umfeldes, gute Ärzte und Therapeuten, kompetente Sachbearbeiter bei Krankenkasse und Behörden, hoffe auf vieles – aber hoffe nicht die Einschränkungen weg, sondern arbeite mit dem, was da ist, und akzeptiere es schonungslos. Das macht handlungsfähig.
Sollten sich die Einschränkungen deines Kindes tatsächlich irgendwann verringern oder sogar ganz geben, dann wirst du es mitbekommen und kannst dich darüber freuen, auch wenn du vorher nicht darauf gehofft hast.
3. Papierkram frontal und direkt angreifen, damit rechnet er nicht.
Der Papierkram, der mit einem behinderten Kind einher geht, ist irre. Jeder hasst Papierkram. Er erdrückt und fühlt sich immer riesig und unmöglich an. Gerade, wenn man auf dem Weg der Elternschaft eines special-needs-Kindes noch neu ist, ist es besonders schlimm: Das Leben ist gerade sowieso irre anstrengend und dieser ganze Papierkram ist neu und unbekannt.
Aber: Papierkram ist deutlich weniger schlimm, als er auf den ersten Blick erscheint. Wenn du dich dran setzt und eins nach dem anderen wegarbeitest, ist vieles erstaunlich schnell erledigt. Antrag auf Feststellung des Pflegegrades? Ein fünfminütiger Anruf an die Krankenkasse, 20 Minuten optionale Vorbereitung auf den Besuch, ein 90-minütiger Besuch vom medizinischen Dienst. Antrag auf Feststellung einer Behinderung? Hat eine Stunde gedauert, wobei ich die meiste Zeit davon Arztbriefe und Pflegegutachten eingescannt habe. Pflegezeit auf die Rente anrechnen lassen? Zehn Minuten Formular ausfüllen. Irgendwas ist unklar oder du hast Fragen? Wenn du die Antwort nach drei Minuten bei Google nicht rausgefunden hast, ruf die jeweilige Stelle einfach an. Sie sind gesetzlich verpflichtet, dich zu beraten, und bisher bin ich nur an freundliche, zugewandte, kompetente Mitarbeiter gekommen. Gerade beim Pflegegrad: Pflegegrad geht neben dem Pflegegeld einher mit so Zusatzleistungen wie Verhinderungspflege oder Entlastungsbeitrag. Mich hat es einfach überfordert, mich da reinzulesen. Ich habe es lange vor mir hergeschoben und die Leistungen fast verfallen lassen. Mein Tipp im Nachhinein? Lies dich nicht rein. Ruf die Pflegekasse an und lass es dir erklären. Da kannst du jede Rückfrage direkt stellen an jemanden, der sich damit wirklich auskennt, bis du es erfasst hast.
Lass nicht zu, dass der Papierkram dir zu viel Kraft raubt. Schmeiß dich rein und kämpf dich durch. Auch darin wirst du kompetenter und es wird leichter. Papierkram händeln ist ein Skill, den du automatisch lernen wirst. Und ja, manchmal wird ein Widerspruch notwendig und das nervt, aber vieles geht auch einfach durch. Also kämpf innerlich nicht mit einem Widerspruch, der wahrscheinlich gar nicht kommt.
4. Therapiebedarf ist dein Freund.
Als mein Sohn essen lernen sollte, waren wir verzweifelt auf der Suche nach möglichst flachen Babylöffeln, weil er mit normalen Babylöffeln einfach nicht klar kam. Wir haben viel zu lange mit der Suche zugebracht und die Ausbeute war nur mäßig. Damals war diese Welt noch neu für mich. Ich wünschte, ich hätte da schon gewusst, dass es Hilfsmittel und Therapiebedarf für die meisten unserer Probleme gibt und ich in dieser Welt hätte suchen sollen statt im normalen Babybedarf. Im Logopädie-Fachhandel gibt es flache Löffel, sogar textuierte flache Löffel, die wir damals gebraucht hätten. Wir sind nicht die ersten, deren Kind eine Behinderung hat, und oft hat jemand anderes schon eine Lösung gefunden. Es gibt einige Onlinehandel, die Praktisches für Kinder mit (und ohne) Einschränkungen sammeln und vertreiben. Inzwischen hab ich vieles aus solchen Onlinehandeln gekauft. Aktuell hat mein Sohn ein Kaubedürfnis, für das gewöhnliche Beißringe nicht mehr ausgelegt sind. Und siehe da: Beim logopädischen Bedarf gibt es Beißteile, die genau für Kinder wie ihn gemacht sind. Ein Träumchen. Mir macht es tatsächlich auch Spaß, diese Onlinehandel für behinderte Kinder einfach mal durchzustöbern und zu gucken, was es so gibt. Manchmal findet man auch gute Ideen für Herausforderungen, die man vorher noch gar nicht richtig benennen konnte.
Eventuell wird das ein Mehrteiler. Ich hab noch mehr Sachen, die mir aufgefallen sind, die ich mir selbst von damals sagen würde. Aber keine Versprechungen an der Front. Vielleicht reicht mir dieser Text auch erstmal. Liebe Grüße!
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* Leute, ich bin Psychologin – das bedeutet, Statistikerin. Kommt mir nicht mit „wer sagt denn, was normal ist“ und so Zeugs. Normal ist ein statistischer Begriff. Er beschreibt die Ausprägung von Eigenschaften, die sich im Normbereich befinden. Es ist ein Wort, das benötigt wird, um das Übliche von dem Abweichenden zu unterscheiden. Der Begriff ist völlig wertfrei. Wenn du ihn als wertend empfindest, ist die spannende Frage, warum du mit Normalität oder Abweichung eine Wertung verbindest.