Winterdepressionen.

Es ist der 10. März. Die letzten Tage waren sehr sonnig. Vermutlich bleibt es noch eine Weile so. Mit der Sonne taut es in meiner Seele. Sie löst sich aus der Erstarrung, saugt sich langsam voll und beginnt zu atmen, als wäre es das erste Mal.

Ich werde mit Solarenergie betrieben. Zu wenig davon, und ich funktioniere nicht mehr richtig. Das liegt daran, dass mein innerer Tagesrhythmus labil ist. Ich brauche das Licht, damit mein Körper versteht, dass es jetzt Tag ist, und damit er mich in den Wach-und-Aktiv-Modus schaltet. Melatonin runter, Serotonin hoch, auf in den Tag. Im Sommer gibt es durchschnittlich am Tag acht Sonnenstunden. Da ist alles cool. Im November, Dezember und Januar sind es gerade mal knapp über eine Sonnenstunde am Tag – und diese Sonnenstunde ist die tiefe, trübe Wintersonne. Das reicht vorne und hinten nicht.

Viele Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, was genau da in mir vor sich geht. Ich habe ein sehr bewegtes Leben. Bis jetzt sind mir häufig Dinge passiert, die mich traurig, wütend, gestresst werden lassen. Ich dachte immer, wenn es mir schlecht geht, liegt es an diesen Dingen. Erst, als letzten Winter einmal wirklich kein Grund mehr übrig war und es mir trotzdem schlecht ging, kam so langsam die Erkenntnis: Ich habe ein ganz anderes Problem als gedacht. Als dann Frühling kam und sich in mir ein Schalter umlegte und ich auf einmal wieder lebendig war, wusste ich dann Bescheid.

Der Winter, der jetzt gerade zu Ende geht, war der erste Winter, an den ich von vorne herein herangegangen bin in dem Wissen, dass Winterdepressionen auf mich zukommen. Es war echt schlimm, zu wissen, dass das kommt. Den ganzen Frühling, Sommer, Herbst 2021 hätte ich jedes Mal heulen können, wenn ich darüber nachgedacht habe, dass wieder ein Winter kommt. Die Erinnerungen an den letzten Winter steckten mir tief in den Knochen, und das wollte ich auf gar keinen Fall wieder.

Also habe ich einen Plan geschmiedet. Mit einer Tageslichtlampe hatte ich in den Jahren vorher bereits Erfahrungen gemacht. Damals nicht so sehr als Therapie, mehr im Sinne von „och, das ist doch nett, wenn es sonst so dunkel ist, und vielleicht geht es mir damit etwas besser“. Ich mochte die Lampe immer, aber ich hätte jetzt nicht sicher sagen können, dass sie wirklich einen merklichen, andauernden Effekt auf mich hat. Jetzt hatte ich nochmal recherchiert und alle Regeln und Tricks für die Lampe herausgefunden – morgens, im Optimum länger als eine halbe Stunde, und je früher, desto besser.

Dann kam das Thema Medikamente. Ich habe geahnt, dass die Lampe nicht reicht. Mehr Hilfe war gefragt. Und so hatte ich bald eine Packung Citalopram – ein Antidepressiva – auf meinem Schreibtisch liegen, bereit für den Tag, an dem es wirklich losgeht.

Über den Winter habe ich gemerkt, dass ich tatsächlich beides brauche – sowohl die Lampe als auch die Medikamente. Beim Herumprobieren habe ich festgestellt, dass keins von beidem allein ausreicht. Ich habe auch gemerkt, dass ich im Januar mein Medikament nochmal erhöhen muss – von einer halben auf eine ganze Dosis täglich. Im Februar konnte ich die Dosis wieder reduzieren. Jetzt ist es März, sonnig, warm, und ich kann anfangen, die Tabletten und die Lampe wieder auszuschleichen.

Ich habe meinen ersten Winter mit Winterdepressionstherapie geschafft.

Und ich bin so dankbar. Es hätte gut passieren können, dass ich auf das Medikament nicht gut anspringe oder dass ich Nebenwirkungen bekomme, die nicht tragbar sind. Aber nein – selbst auf die halbe Dosis bin ich so gut angesprungen, dass sie für den größten Teil des Winters gereicht hat. Meine einzige merkliche Nebenwirkung war, dass mir leichter übel wurde. Busse und Aufzüge wurden für mich Tabu. Zum Glück lassen sich diese Dinge in meinem Alltag leicht vermeiden. Ansonsten – nichts. Keine Appetitlosigkeit, kein Verlust der Libido, keine Kopfschmerzen.

Winter ist machbar. Das ist mein Ergebnis. Auch mit Lampe und Medikamenten fühlt er sich nicht so leicht an wie der Rest des Jahres, aber das ist okay. Es ist okay, wenn Winter schwermütiger und drückender ist. Es ist okay, wenn ich im Winter weniger schaffe und mich mehr verkrieche. Es ist okay, weil ich trotzdem noch aus dem Bett komme, weil ich die Lust zu leben nicht verliere, weil ich alles wichtige trotzdem noch machen kann, weil ich die Freude an anderen Menschen behalte, weil ich immer noch lebe statt nur zu überleben.

Und das ist gut. Das ist sehr gut zu wissen. Dieses Jahr brauche ich keine Angst mehr vor dem Winter zu haben. Ich weiß, was auf mich zukommt, und ich weiß, wie ich es händeln kann.

Danke, Jesus, dass du einen Weg für mich gemacht hast.

Nicht das Opfer

Vor drei Jahren besuchte mich eine Freundin aus einem fernen Land. Sie hatte lange auf diese Reise gespart und staunte über den ganzen Luxus Deutschlands. Beim Abschied mogelte sie mir unbemerkt 100€ unter – sowohl für mich als auch für sie damals eine riesige Summe Geld. Ich hatte keine Möglichkeit, es ihr zurückzugeben. Ich habe mich furchtbar gefühlt. Ich wollte dieses Geld nicht. Ich brauchte es ja auch nicht. Sie dagegen hätte gut Verwendung dafür gehabt. Sie musste so lang für 100€ arbeiten, viel länger als irgendjemand in Deutschland. Das Geschenk war einfach zu groß.

Als ich mich über diese Situation lang und breit bei meiner Tante beschwerte und sie irgendwann genug hatte, sagte sie zu mir: „Du lässt dich gerade zum Opfer machen. Deine Freundin wollte, dass du das Geld hast. Für sie ist die Welt in Ordnung. Dein einziges Problem ist, dass du mit ihrer Entscheidung über ihr eigenes Geld nicht einverstanden bist.“ Damals hat mich diese Aussage sehr wütend gemacht. Heute rettet sie mir so manchen Tag.

Ich lasse mich nicht mehr zum Opfer der Entscheidungen anderer machen, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Natürlich hat das Grenzen. Aber wenn mir heute jemand ein zu großes Geschenk geben will, dann nehme ich es einfach an. Offensichtlich ist diese Person mit ihrer Entscheidung glücklich. Warum sollte sie mit ihrer Entscheidung, was sie weggibt, Macht über meinen inneren Frieden haben?

Als ein betrunkener Freund eine absurde Menge Hautcreme kaufte und mir davon etwas aufdrängte, um sie loszuwerden, schmiss ich sie zu Hause weg. Ich mag diese Creme überhaupt nicht. Warum sollte er in einem betrunkenen Moment darüber entscheiden dürfen, ob ich meine Lieblingscreme verwende oder nicht?

Wenn mir die Verwandte sagt, wie traurig sie es findet, dass ich nicht mit zum Familientreffen in das stets laute, stickige Restaurant komme, das sie so liebt und mir immer nur Bauchschmerzen macht, dann akzeptiere ich ihre Traurigkeit und komme das nächste Mal mit einem Topf Gulasch zu ihr nach Hause. Warum sollten ihre Gefühle entscheiden dürfen, ob ich hingehe und Bauchschmerzen bekomme? Und warum sollten ihre Restaurantvorlieben entscheiden dürfen, wie häufig ich sie sehe?

Und als die großen Diskussionen aufkamen, ob es in diesem Land wirklich mit rechten Dingen zugeht, fragte ich mich, was mir wirklich wichtig ist. Es ist mir wichtig, hier ein Licht zu sein – für meinen Mann, meine Freunde, meine Familie. Es ist mir wichtig, auf meine Gesundheit zu achten, psychisch und physisch. Und es ist mir wichtig, in der Uni voran zu kommen. Ich entschied mich, dass keine Diskussion mit keiner Person, die ich kenne, auf Kosten dieser Dinge gehen wird. Warum sollten die Meinungen anderer oder die großen, komplizierten Fragen mir etwas von der Zeit, Aufmerksamkeit und Energie für die wichtigen Dinge nehmen dürfen? Sie dürfen es nur, wenn ich mich zum Opfer machen lasse und nicht Nein sage.

Aber ich sage Nein. Ich bin nicht das Opfer. Ich weiß, was ich will. Ich treffe die Entscheidungen selbst.

„Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht finde ich dadurch mehr Gelassenheit“, schrieb mir heute eine Freundin, als es um dieses Thema ging. Erst da ist es mir aufgefallen: Wie sehr ich dieses „Nicht das Opfer“ inzwischen verinnerlicht habe. Und wie viel Gelassenheit es mir gebracht hat. Erst da ist mir aufgefallen, dass diese Aussage meiner Tante, die mich zunächst so wütend gemacht hat, jetzt so viel Frieden für mich bedeutet.

Meiner Tante kann ich das leider nicht mehr erzählen. Deswegen erzähle ich es euch. Vielleicht kann ja jemand diese Worte gebrauchen.