Fassadenkultur

Aus dem Malaysia-Archiv

Es ist eine Beziehungskultur, hieß es. All die Schamkulturen – die größten Teile von Afrika, Asien – sind Kulturen, wo Beziehung sehr hoch steht, höher als bei uns. Sind gastfreundlicher. Wärmer.

Mir ist hier kalt.

Ich komme mir vor wie in einer eingespielten Choreographie. Ja, auf den ersten Blick ist da diese Gastfreundschaft, und wir werden eingeladen. Die Menschen reden mit uns, sind neugierig, und es scheint, als wären die Menschen hier bei weitem nicht so fremdenabweisend wie bei uns.

Aber dann fühlt es sich an, als würde der Ruf und die Fassade wichtiger geachtet werden als eine Beziehung. Nicht ehrlich wird dem anderen das Herz und die Gefühle gezeigt, sondern immer nur die Fassade, die Fassade, und man schleicht um die des anderen vorsichtig herum, um sie ja nicht zu zerstören – das ist Respekt – und erwartet auf der anderen Seite dasselbe für sich.

Respekt, das kommt auch aus Hierarchie. Und wir, wir sind ganz unten, denn wir sind neu, sind deutsch, sind anders, kommen als die Freiwilligen. Auf die anderen herabzublicken, das ist hier nicht arrogant. Das ist normal, sobald man höher steht. Ganz unten zu sein, das heißt, sich von allen alles sagen lassen zu müssen. Das heißt, keine Bewegungsfreiheit zugestanden zu bekommen. Das heißt, nicht gesehen und wertgeschätzt zu werden in seinen Stärken oder geschweige denn ihnen entsprechend eingesetzt zu werden – das steht uns noch nicht zu.

Etwas verwirrt haben wir uns am Anfang umgeschaut, als keiner uns für unseren Einsatz wertgeschätzt, respektiert oder uns gedankt hat. So ist Deutschland: Bitte bitte setz dich ein, wir brauchen dich, und tausend Mal danke und du hast das so gut gemacht. Aber hier ist es anders. Hier tut man und tut und das Feedback bleibt aus, aller Einsatz und Arbeit wird für selbstverständlich genommen und gelobt wird nur ganz selten.

Deutschland ist so warm.

Von außen mag es kälter erscheinen – Fremden gegenüber wird mehr auf Distanz gegangen. Distanz ist in Deutschland ein Zeichen von Respekt. Kritisiert wird so viel offener, manchmal ohne Rücksicht auf die Gefühle des anderen.

Aber auch gelobt, ermutigt wird so viel offener. Ehrlichkeit steht so viel höher im Kurs, und die ganze eingespielte Choreographie von Malaysia gibt es bei uns nicht so sehr. Ich habe das Gefühl, so viel schneller nah an Menschen heran zu kommen, denn Ruf und Fassade stehen nicht so sehr im Weg. Und man lässt einen jungen Menschen, der sich einsetzen will, tun. Junge Leute können Leiter werden und kreative Ideen haben einen Platz und werden wertgeschätzt. Kritik dient zum Verbessern der Effektivität.

Deutschland ist ein Land mit einer hohen Arbeitsmoral. Bei uns muss alles effektiv erledigt werden. In seinem Job arbeitet der Deutsche vergleichsweise hart. Dann kommt er nach Hause und ruht sich aus. Der Job ist vorbei. Feierabend. Die Zeit für sich selbst wird von anderen geachtet, und nimmt man sie für irgendwelche Versammlungen in Anspruch, so sorgt man dafür, sie so kurz und effektiv wie möglich zu halten – so respektiert man den anderen.

Hier ist man viel freier, diese Zeit anzurühren. In ihrem Job arbeiten Malaysier nicht so hart. Effektivität ist zwar ein Thema, aber es ist wie eine Fremdsprache, die sie erst erlernen. So tun sie oft Dinge, die nicht so richtig zielführend sind. Malaysier sind länger auf der Arbeit, haben mehr Versammlungen, sind viel mehr unterwegs. Sie wissen nicht, wie man sich ausruht. In ihrem Selbstbild arbeiten sie unglaublich hart. Den ganzen Tag! Mehr als Deutsche. Die wollen sich ja ausruhen.

Wir Deutsche widersprechen nicht.

Malaysia ist ein Land der Fassade, und so wie der Ruf dazu gehört und mehr angesehen wird als der Mensch als ganzes, so tun sie es auch in der Medizin. Beschwert sich der Körper durch irgendwelche Schmerzen, ist im Körper etwas falsch. Dass der Mensch als ganzes funktioniert und die Seele sich auf den Körper und umgekehrt auswirkt, das wissen sie hier nicht wirklich. Auch, woran man den Wert eines Menschen misst. Hier bringen sich Schüler wegen zu schlechter Zeugnisse um, denn es wird mit viel Druck gearbeitet, und die Eltern, die ja in der Hierarchie viel höher stehen, erwarten gute Noten. Die Noten messen den Menschen.

Es soll eine Beziehungskultur sein, ja, aber es fühlt sich an, als wäre es hier nur von außen warm. Jetzt, wo ich langsam ein bisschen beginne, hineinzukommen, wird es ganz kalt hier. Vielleicht wird es ja wieder warm, wenn man wirklich dazu gehört. Ich weiß es nicht.

Eine Fassadenkultur, und ich stehe nur davor.

Jason

Aus dem Oktober 2015

Das erste Mal habe ich Jason nur bemerkt, weil er als einziger zwischen all den Chinesen und Indern blonde Haare hat. Nun ja, nicht wirklich blond – eher so ein Gelbton. Wir drei deutsche Freiwillige wurden gerade mit der Mitarbeiterschaft der Kirche vertraut gemacht und versuchten uns gleichzeitig chinesische Namen, die Rollen der Menschen und die ganzen Abläufe zu merken. Da Jason eigentlich nichts gesagt hat, habe ich außer seinen blonden Haaren nicht viel von ihm bemerkt.

Das nächste Mal, als wir ihn sahen, drückte er uns eine Tüte in die Hand und sagte: „For you“ Bevor wir kapierten, was passiert war, war er auch schon wieder weg. Wie es sich herausstellte, waren es Früchte. Einheimische Früchte. Wir kannten sie nicht, und andere anwesende Chinesen erklärten uns, wie man sie isst.

Die Sache mit den Früchten wurde zu Tradition. Jason grüßte uns nur sehr selten, aber so gut wie jedes Mal, wenn er uns sah, gab er uns Früchte. Manchmal erklärte er uns noch, wie die Früchte heißen und was man von ihnen isst. Wir gewöhnten uns sehr daran, dass er sie uns manchmal beim Vorbeigehen einfach unauffällig in die Hand drückte. Während alle anderen verdutzt guckten, gingen wir ganz selbstverständlich weiter unserem Tagesgeschäft nach.

Er war es, der uns befreit hat, als das Vorhängeschloss unserer Haustür kaputt ging. Auf all unser Gerede ging er nicht ein, aber er grinste. Das erste Mal länger reden hörten wir ihn, als er bei der wöchentlichen Mitarbeitervesammlung beten sollte. Wir waren ganz fasziniert von seiner tiefen, langsamen, wohltuenden Stimme. Und er war immer da. Immer, wenn wir in der Kirche waren, war er da. „Der wohnt doch in der Kirche“, witzelte meine Mitbewohnerin irgendwann.

Heute trafen wir ihn auf der Straße. Er wollte was essen. Wir auch. Wir taten uns zusammen.

Er erklärte uns eine weitere Art, hier Essen zu bekommen, zahlte Essen und Getränke und quatschte mit uns. Es war wunderbar. Und dann fragte er: „Still got space in your stomach?“

Aus einem einfachen Abendessen wurden vier Gänge. Wir liefen einen Foodcourt weiter und kauften eine Auswahl einheimischer Früchte. Und weil es auf dem Weg lag, auch noch frittierte und teils gefüllte Teigteilchen mit einheimischen Namen. Von jedem eins. „We share“, sagte er, und bezahlte alles selbst.

„I used to live here“, erklärte er uns, als wir gerade die Früchte kauften. Es war eine ziemlich billige Wohngegend mit unglaublich vielen Menschen auf wenig Raum.

„And where do you live now?“, fragte ich.
„In church.“
Wir trauten unseren Ohren nicht.

Früchte und Teigteilchen verspeisten wir genüsslich in der Kirche. So richtig herausgefunden, wo er jetzt lebt, hatten wir immer noch nicht. Gut, das Kirchenhaus bestand neben dem Gottesdienstraum auch noch aus einem Kindergarten und Büros, aber wo sollte da noch Platz für Jason sein?

Und gerade, als wir wirklich dachten, voll zu sein, verschwand er und kam mit Schokoladeneis aus seinem Gefrierfach zurück. Es war ein Fest. Wie sich herausstellte, hatte Jason einen fantastischen Humor und wir lachten viel.

„Can we help you?“, fragten wir nach unserem Menü in der Hoffnung, endlich zu erfahren, wie er lebt. „Yes, come.“

Und dann fanden wir es – hinter einem der Hinterausgänge, sehr geschützt, stand ein blauer Container mit kleinen Fenstern und Pflanzen rundherum, eine Hängeschaukel, ein Metallregal, das Bad gegenüber vom Eingang im Kirchengebäude. Eine kleine Treppe, die zur Tür hinauf führt. Das sah doch genauso aus wie…

„You live like a German childhood hero!“

Unglaublich, unglaublich, wiederholte ich innerlich wieder und wieder. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, mal so zu leben. In einem Bauwagen oder einem Baumhaus und ganz urig und nah an der Natur und mit ganz vielen schönen Sachen. Jason verstand meine Begeisterung zwar nicht so ganz, grinste mich aber trotzdem aus seinen schmalen Augen an.

„Weißt du, wie ich das heute zusammenfassen würde?“, fragt eine Mitbewohnerin auf dem kurzen Weg nach Hause und brachte es dann auf den Punkt:

„Der chinesische Peter Lustig hat uns zu einem vier Gänge Menü eingeladen.“

Heimatlaute

Obwohl ich nie ein Kind der Landeskirche war, habe ich das Leuten der Glocken immer geliebt. Kirchenglocken haben eine wunderbar warme Feierlichkeit. Genauso wie alte Kirchengebäude. Ich habe eine heimliche Lieblingskirche, eine ganz kleine, mehr eine Kapelle. Unscheinbar versteckt sie sich hinter einer viel Mächtigeren. Wenn ich vom Schwimmen zurück gekommen bin, dann habe ich sie oft besucht. Immer gehofft, dass keine Touristen da sind – ab und zu verirren sie sich dorthin. Aber selbst wenn: Sobald klar wird, dass ich öfters dort bin und nicht nur „mal gucke“, werde ich schnell allein gelassen. Dort bin ich dann still geworden. In der machtvollen Kirche nebenan leuten die Glocken.

Ein anderes Geräusch, das ich liebe, ist das Plätschern von Wasser beim Einschenken. Ein ruhiges Zimmer, ein Glas, eine Flasche. So ein schlichtes, unscheinbares Geräusch, doch für mich liegt so viel Heimat und Ruhe darin, so viel Pause und Genuss und Musik. In diesem Geräusch klingt der Küchentisch und der Blick aus dem Fenster mit, das Sitzen auf der Arbeitsplatte und Beobachten der Straße, das Knarren oder eher Scheppern der Küchentür, das Gefühl des weichen und wertvollen Schafwollteppichs unter den Socken, das leicht unregelmäßige Ticken unserer Küchenuhr, deren Zeiger nach unten immer etwas hastet und nach oben hin so kämpft, dass man immer glaubt, er schafft es nicht mehr rechtzeitig. So oft bin ich, wenn ich nach Hause gekommen bin, zuerst in die Küche gegangen und habe ein Glas Wasser getrunken und habe all das gesehen, gespürt, gehört.

Ich vermisse das Brummen meiner kleinen Schwester, wenn man in ihr Zimmer kommt und sie sich gerade in ihrer eigenen inneren Welt verkrochen hat, auf dem Teppich vor dem Fenster, halb verborgen hinter dem Schreibtisch, neben sich den alten CD-Player oder ein Buch, ein paar Papierchen von Süßigkeiten, Kissen. Ich vermisse ihr Brummen, wenn man sie ärgert oder sie müde ist oder nicht zugeben will, dass etwas eigentlich lustig ist. Ich weiß gar nicht, ob Brummern wirklich das richtige Wort ist. Vielleicht eher Knarren. Oder Grummeln. Ein Geräusch, das so liebenswert freundlich wie entnervt müde sein kann.

Weckerpiepen, die effektiven Schritte meines Vaters am Morgen, die mir immer zu schnell für diese Stunde sind. Der Wasserkocher blubbert, das Rauschen des Wassers in den Rohren, jemand duscht. Mama, wie warm wird es? Mama, wo ist mein grünes T-Shirt? Mama, darf ich deine schwarzen Stiefel? Die Schritte meiner Mutter, wenn sie die Treppe hochgeht, das Trampeln meines Bruders, das Knallen der Tür. Die Klingel, und keiner geht hin. Das Telefon, und keiner geht hin, und dann doch wieder Mama. Das Knallen der Tür, und Papa ermahnt, und irgendwer hört nicht wirklich zu. Die Vibration der Haustür, der Schlüssel in der Wohnungstür, Rucksack in die Ecke. Die Kirchengemeinde nebenan, Musik, Absatzschuhe in schnellem Schritt. Mikrowellenpiepen, und keinen stört es außer mich. Klavier spielen, und alle stört es außer mich. Mein Bruder lacht. Teamspeak. Meine Schwester übt Trompete. Toilettenspülung, Dusche, das Knallen der Tür, wieder Papa nicht zugehört. Lichtschalter, Heizungsrauschen. Die Straße vor dem Haus, irgendwelche Männer lachen irgendwo. Immer noch Licht unter der Tür meines Bruders, und ich klopfe so leise, dass er er sowieso nicht hören kann, komme herein und lege mich zwischen all sein Chaos aufs Bett. Lüftest du wieder? Ja, ich lüfte.

Die Stimme meine Heimat – Glockenleuten, Wasser in einem Glas, die Geräusche des Hauses, die Stimmen meiner Familie, meiner Freunde. Alles eine Stimme, eines alles Zusammen. Die Stimme einer Zeit, eines Gefühls, eines Ortes. Zuhause. Eine Stimme, die ich vermisse, wie ein Kind die Stimme seiner Mutter, wenn sie zu lange getrennt sind.

Meine Seele will sie wieder hören, die Stimme. Meine Stimme klingt in der Ferne so fremd. Sie sprechen nicht meine Sprache, kennen die Sprache meiner Heimat nicht. Meine Sprache ist eine andere.

Pisserziehung oder Die wahre chinesische Männlichkeit

Mein Highlight des heutigen Tages war, im chinesischen Kindergarten an der offenen Toilettentür vorbeizugehen und fünf zwei- bis vierjährige Jungs beim einträchtigen Pinkeln zu erblicken. Sie standen mit heruntergelassenen Hosen und ernsten Gesichtern um die Kindertoilette herum und taten, was sie nun mal tun mussten. Freihändig. Ich war schwer beeindruckt.

Innerhalb meiner achtzehn Jahre Lebenserfahrung bin ich zu dem eindeutigen Schluss gekommen, weiblich zu sein. Trotzdem war ich irgendwie häufig genug dabei, wie kleine Jungs in Deutschland Toilettenerziehung bekommen haben. Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber ich habe das Gefühl, in Deutschland wird ausführlich immer und immer wieder gepredigt, dass Jungs sich hinzusetzen haben. Es wird nicht nur gepredigt, es steht sogar auf kleinen Klebeschildern an Toilettentüren und in Klodeckeln.

Trotzdem klappt das natürlich nicht. Mir scheint, die Jungs lernen das nicht und wollen es trotzdem und deswegen wird es eklig. Selbst wenn sie irgendwann erwachsen sind.

Hier ist das anders. Hier werden die Jungs dazu erzogen. Hier sind Zweijährige freihändig treffsicher. Da ist nix eklig.

Vielleicht ist das die Rache am Westen. Für Westler wirken chinesische Männer oft recht weiblich. Sie nehmen die kleineren, schwächeren Stupsnasengesichter mit ihrem Kollektivdenken und Fassadengehabe oft nicht so richtig ernst. Vielleicht ist das Pinkeln der Weg der Chinesen, ihre Männlichkeit zu verteidigen und die Nase bzw. ihren… naja vorn zu behalten. Subtil, kaum einer weiß es, aber wenn sich dann mal die wirklich wichtigen Businessbosse der Welt am Pissoir begegnen…

Wie auch immer. Ich habe dann irgendwann beschlossen, endlich weiterzugehen und diese Inkarnation wahrer chinesischer Männlichkeit nicht weiter anzustarren. Wenn die weiße Freiwillige interessiert den kleinen Jungs beim Pinkeln zuschaut, gibt das schnell falsche Assoziationen, auch wenn sie dabei tiefgreifende Erkenntnisse über die Machtverhältnisse auf diesem Globus hat.

Die Normalität des Leidens oder German Hugs braucht diese Welt

An meiner Wand hängen Fotos, und auf einem davon ist der wärmste German Hug zu sehen, den ich mir momentan vorstellen kann. German Hugs sind warme, tiefe Kuschelumarmungen, in die man hineinversinken und in denen man sich wohlfühlen kann, und ganz besonders gut kann das meine Freundin Luci, und von ihr und mir in das Foto.

Ich vermisse Umarmungen. In Malaysia umarmt man sich nicht so wirklich. Nur so ganz vorsichtig, ohne sich wirklich zu berühren.

In mir drin ist es momentan oft kalt. Das nennt man Wüstenzeit. Oder einfach ‚hart‘. Vielleicht nennt man es auch Übergangsphase, Kulturstress, erwachsen werden. Isolation. Herausforderung. Was auch immer.

Meine Freunde wissen das, und weil sie mich um eine viertel Erde herum schlecht umarmen können, schreiben sie mir. Und bei dem, was sie so schreiben, lerne ich einiges darüber, wie Menschen eigentlich harte Zeiten und Leiden sehen.

Zuallererst – ja, man darf mir, auch wenn es mir gerade schlecht gehen mag, von dem erzählen, was gut läuft. Dafür braucht man sich nicht schämen, schuldig fühlen oder irgendwas. Es tut mir gut, zu hören, wenn es den Leuten gut geht, die mir am Herzen liegen.

Auch sonst brauche ich, wenn es mir schlecht geht, eigentlich keine Sonderbehandlung. Die meisten Menschen verstehen intuitiv – zuhören, ermutigen, das ist gut. Aber das darüber hinaus auch gut ist, einfach weiterzumachen, mich mit reinzunehmen und dabei sein zu lassen, das scheint gar nicht so klar zu sein. Die Normalität des Leidens ist verloren gegangen. Es wird entweder verdrängt oder dramatisiert. Dabei ist es das gar nicht wert. Es ist einfach nur. Deswegen kann man sich damit mal beschäftigen, und dann aber auch mit etwas anderem weiter machen.

Ich merke, dass ich nicht die einzige bin, die das Leiden aushalten muss. Meine Freunde müssen es auch aushalten – vor allem, dass sie mich nicht retten können. Manche wissen das gar nicht, dass durch ihre Ermutigung nicht gleich alles einfach wird. Sie erwarten von sich, mir eine Lösung anbieten zu können. Ich erwarte das nicht von ihnen. So simpel ist das alles nicht.

Immer wieder schreiben mir Menschen, wie leid es ihnen tut, dass mein Jahr, das doch so gut werden sollte, jetzt hart ist.

‚Gut‘ und ‚hart‘ schließt sich nicht aus. Gut, wenn mein einziges Bestreben mein Wohlfühlen wäre, dann vielleicht schon. Aber wenn ich Charakter,  Beziehungen, Weisheit mit reinnehme, dann können harte Zeiten mir dienen. Schaffe ich es, durch die Gezeiten zu gehen, ohne bitter zu werden, dann können sie mich liebender, verständiger und geduldiger machen. Und wenn ich alte Frauen ansehe, deren Herz und Geist wach geblieben ist, und höre, welche Zeiten sie zu so einer Ehefrau, Mutter, Freundin, Leiterin gemacht haben, dann weiß ich, dass ‚gut‘ manchmal mitten im ‚hart‘ liegt.

Vielleicht klinge ich jetzt weise. Vielleicht klinge ich, als könnte ich gut mit meinem Leid umgehen. Das stimmt nicht. In der Regel hasse ich es und immer wieder will ich aufgeben. Wie selten nur gelingt es mir, es als normalen Teil vom Jetzt anzunehmen, in dem ein „gut“ verborgen ist. Wie selten gelingt es mir, zu leben, was ich im Kopf langsam zu begreifen beginne.

Jetzt gerade zum Beispiel, wo ich das alles durchdacht und aufgeschrieben habe, fühle ich mich einfach nur nach verkriechen und heulen und nach einer ganz tiefen Luci-Umarmung. Meine Seele versteht vieles nicht. Die versteht den Wert hinter etwas nicht, das unangenehm ist. So weit kann meine Seele nicht denken. Meine Seele weiß nur: Aua. Es tut weh und ich mag es nicht.

Aber German Hugs, die versteht meine Seele. Umarmungen braucht diese Welt, besonders dieses Land, und jetzt gerade ganz besonders ich.

Ich mag dich

„Sina ich mag dich :-)“

Um die viertel Welt herum erreicht mich diese Mail, so kurz, dass sie eigentlich auch komplett in den Betreff gepasst hätte, so zusammenhangslos wie nur irgend möglich und so wohltuend wie Schwimmen gehen und danach von Oma bekocht werden.

Es ist so wichtig. Manchmal ist es einfach so wichtig, zu wissen, sich zu erinnern, gesagt zu bekommen, dass man gemocht wird. All die guten Ratschläge und verständnisvollen Kommentare verblassen daneben.

Ich brauche das, und ich beginne, es mir zuzugestehen.

Ich habe ich lange dafür geschämt, dass Anerkennung von anderen so viel mit mir macht. Dass es mir so wichtig ist, zu hören, was jemand über mich denkt, was er für mich fühlt, ob er mich mag. Alle sagen immer: ‚Hör nicht auf das, was die anderen sagen. Sei nicht abhängig davon. Mach dein eigenes Ding.‘ Ich dachte immer, ich muss das lernen, muss das ändern, dass mir das wichtig ist.

Und jetzt denke ich: Nö. Ich bin dafür gemacht, zu mögen und gemocht zu werden. So, wie ich bin und wie es meine Art ist. Und wenn eine Freundin fürs Leben mir diese Worte quer über ein, zwei Ozeane schickt, dann darf ich mich freuen wie ein kleines Kind – auch wenn ich das eigentlich schon lange weiß und sie mir das so oft gesagt hat. Ich darf mich freuen, weil es immer noch so ist und ich glücklich bin, dass es sie gibt und wir uns haben.

Jetzt, wo ich in einem neuen Land bin, wo ich gerade erst Menschen kennen lerne, merke ich, wie schwierig es ist, jemanden so kennen zu lernen, dass man ihn wirklich mögen kann für wer er ist. Bin ich die, als die ich mich hier benehme? Es ist so anders als in Deutschland. Sind die Leute die, für die ich sie halte? Oder verzerren Kulturunterschiede und Vorurteile meinen Blick? Und was sehen die Menschen hier an mir als wertvoll an? Was in Deutschland von meinen alten Freunden an mir geschätzt wurde, hat hier noch keiner erwähnt. Es ist alles so anders.

Da ist eine, die mag mich. Eine viertel Welt weit weg, aber sie kennt mein Herz. Je besser mich jemand kennt, desto wertvoller seine Wertschätzung, und ihre Worte schützen mein Herz wie ein Mantel.

Westler im Bus

„Guckt mal. Westler.“

sagt irgendeine von uns dreien, als wir die Busstation betreten.
„Touristen“, diagnostiziert eine andere routiniert.
Die kleine Reisegruppe sieht verwirrt aus und nicht wirklich, als wüssten sie, was sie tun.
„Sollen wir denen mal erklären, wie man Bus fährt?“, frage ich amüsiert-gleichgültig.
„Nee, erst mal schauen, ob sie alleine zurecht kommen.“ Wir grinsen.

Vorhin erst haben wir zwei westlichen Backpackern beim Fähre fahren geholfen: Zur Insel hin zahlt man, zurück nicht. Am Schalter zahlt man nicht und wechselt auch keine Währungen, sondern wechselt nur Scheine zu alten Münzen. Nein, mit Dollar meinen sie nicht euer amerikanisches Geld, sondern malaysische Ringgit. Die Automaten nehmen nicht alle, sondern nur alte Münzen. Nein, man bekommt kein Ticket, sondern geht dann einfach durch. Ist doch alles völlig selbsterklärend. Wo ist denn das Problem?

Die verwirrte Reisetruppe hat es kurz darauf allerdings tatsächlich alleine in den Bus geschafft und wirkt wie erwartet völlig fehl am Platz. Dem Akzent nach zu urteilen Amerikaner. Wir genießen es, deutsch zu sein: Uns versteht keiner, wenn wir lästern.

„Wie sehr die einfach auffallen.“
„Echt. Aber Westler fallen immer auf.“
„Viel zu groß.“
„Und zu lange Nasen.“
„Guckt mal, die sind fast alle blond.“
„Der da trägt bestimmt auch nur Hollister, um cool zu sein.“
„Und Nikes. Wetten, die sind auch noch echt?“
„In so kurzen Sachen würde auch kein Einheimischer rumlaufen. Typisch Touristen.“

Pause.

„Fallen wir eigentlich auch so auf?“
Wir gucken uns nachdenklich im Bus um und schauen uns die Touristen und Einheimischen an.
„Nee, wir ziehen uns nicht so an wie Touristen.“
„Außerdem ist keine von uns blond.“
‚Aber Sinas Haare sind rot‘, denken alle und keiner sagts. Es würde die Argumentation kaputt machen.

Erneute Pause.

„Ich glaub, für die Einheimischen sehen wir genauso aus wie die Touristen“, spricht dann endlich wer die Wahrheit aus.
„Wahrscheinlich.“ Wir grinsen und eine von uns zieht ihr Tuch fester um den Hals.

Kein Einheimischer würde sich bei den gefühlten 12 Grad im Bus ein Tuch umlegen. Sowas machen nur die komischen Westler, die mit den Klimaanlagen nicht zurecht kommen.
Die Touristen haben keine Tücher. Sie haben keine eingepackt, weil sie dachten: Malaysia ist heiß, da braucht man sowas nicht. Sie erkälten sich. Wir wissen es besser.

Wir verpassen unsere Bushaltestelle, weil zwar alles unterschiedlich, für uns aber völlig gleich aussieht und keiner aufgepasst hat. Kichernd stolpern wir eine Haltestelle zu spät neben einem Stand mit Soja-Shakes aus Plastiktüten auf die Straße.

Die Einheimischen schauen uns aus dem Fenster hinterher.