behindert?

„Und wie alt ist dein Kind?“

Eine harmlose Frage, wenn sie von Paul kommt, der 20 Jahre alt ist und sich vor allem mit Pen&Paper auskennt. Die Frage kommt aber nicht von Paul, sondern von Kati, 35, Mutter eines einjährigen und eines dreijährigen Kindes. Das ist die Art von Personen, die eine Antwort in Monaten erwartet und mit dieser Zahl auch richtig was verbindet.

„20 Monate“, antworte ich also wahrheitsgemäß. Wir schauen gemeinsam auf meinen Sohn. Er krabbelt unter dem Klettergerüst durch und lässt ab und zu etwas Sand durch seine Hände rieseln. Manchmal schaut er nach den anderen Kindern. Insgesamt ist er aber in seiner Welt versunken.

Sag ich jetzt was?, frage ich mich. Kati kann kaum übersehen haben, dass mein Sohn nicht auf dem Stand eines 20-monatigen Kindes ist, denn Kati kennt sich aus. Ihr Kind, 12 Monate alt, läuft. Ich spüre förmlich ihr Unbehagen, jetzt gut mit der Situation umgehen zu wollen, aber nicht so ganz zu wissen, wie. Ignorieren? Ansprechen? Wenn ja, wie?

„Läuft er?“, fragt sie mich.

„Nein.“

Spätestens das ist jetzt der Punkt, an dem ich etwas erklären sollte.

Früher habe ich immer auf die Weise die Wahrheit gesagt, wie sie auch die Ärztinnen formulieren: Er ist entwicklungsverzögert. Wir wissen nicht, warum. Bisher waren alle Untersuchungen unauffällig. Es könnte ein Gendefekt sein. Die Ergebnisse stehen noch aus.

Das Problem dieser Erklärung sind die Antworten.

„Ach, der holt bestimmt noch auf. Da würde ich mir gar keine Gedanken machen. Ärzte übertreiben ja auch immer. Die legen irgendeinen Maßstab an und entscheiden dann einfach, was normal ist. Und dabei ist er noch so klein, da holen die noch alles auf! Das Kind von der Freundin meines Arbeitskollegen, das ist auch erst mit 22 Monaten gelaufen, und die Ärzte haben riesen Drama gemacht, aber jetzt ist sie schon in der 2. Klasse und alles ist normal. Jedes Kind ist eben anders! Und er ist ja ein Junge, die sind sowieso immer langsamer. Also mach dir am besten keine Sorgen. Der entwickelt sich schon in seinem Tempo. Das wichtigste ist, dass du ihn so annimmst, wie er ist.“

Das kann ich ehrlich gesagt nicht mehr hören. Was antwortet man darauf? An dieser Antwort stört mich so viel, dass ich nicht mal wüsste, wo ich anfangen sollte. Also sage ich eine andere Variante der Wahrheit, und die sage ich jetzt auch zu Kati:

„Wie du siehst, ist sein Entwicklungsstand nicht der eines 20-monatigen Kindes. Er hat eine Behinderung.“

„Ach ja, hätte ich jetzt gar nicht gesehen“, sagt Kati, und meint damit, dass mein Kind nicht nach Rollstuhl oder Down-Syndrom aussieht. „Was hat er denn für eine Behinderung?“

„Das wissen wir noch nicht.“

Das Gespräch plätschert weiter vor sich hin. Es geht darum, wie wir von der Behinderung erfahren haben und was meinen Sohn von anderen Kindern unterscheidet. Mit neugierigen Fragen kann ich gut umgehen. Währenddessen fängt mein Sohn an, Sand zu essen. Irgendwann sagt Kati:

„Ja krass. Dann alles Gute euch. Geht ihr eigentlich auch zum Kinderturnen?“ und dann sind andere Themen dran.

Deswegen sagte ich „behindert“. Weil damit keiner diskutiert. Und weil die normale Spielplatzmutti bei „behindert“ mehr Fragen als ungefragte Meinung hat. Ich mag das Wort. Rein juristisch hat mein Sohn tatsächlich einen Grad der Behinderung. Warum also sollte ich dieses Wort nicht für uns nutzen?

Nun ja, andere Mütter haben dazu andere Meinungen. Manche Eltern behinderter Kinder empfinden es furchtbar, sein eigenes Kind so zu bezeichnen, weil es als ein abfälliges Wort verwendet wird. Ganz nachvollziehen kann ich das nicht. In dem Moment, in dem ich über mein eigenes Kind liebevoll sage, dass es behindert ist, nehme ich dem Wort doch jede negative Konnotation. Mein Gegenüber, das diese negative Konnotation vielleicht empfindet, wird implizit damit konfrontiert, dass diese Konnotation vielleicht nicht angebracht ist. Wenn dann ab und an die innerliche Erkenntnis kommt: „Nee, stimmt, eine Behinderung ist erstmal etwas völlig wertfreies“, dann haben wir doch alle was gewonnen, oder nicht?

Ich bin noch am Anfang diesen Weges. Ich probiere noch aus, welche Geschichte ich über mein Kind erzähle. Bestimmt wird es später andere Versionen geben. Vielleicht kehre ich dem Wort „behindert“ irgendwann auch den Rücken. Wer weiß.